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Archiv-Artikel

Sex in Kleidern

Reggaeton heißt das neue Ding aus der Karibik. Die Wiege des Genres steht in Puerto Rico, doch auch in New York und auf Kuba hat der Dancehall-lastige HipHop-Sound inzwischen viele Freunde gefunden. Nun wollen die Stars der Szene wie Daddy Yankee und Speedy die europäischen Charts erobern

Reggaeton ist ein scheppernder, HipHop-inspirierter Dancehall-Sound. Über diese Basis legen die MCs ihre spanischen LyricsJeder US-amerikanische Latin-HipHop-Act hat heute mindestens einen Reggaeton-Remix im Programm

VON KNUT HENKEL

Auf seiner Homepage präsentiert sich Daddy Yankee im abgegriffenen Gangstalook mit elegantem Geldkoffer, dickem Goldarmband und coolem Panamahut. Nicht nur in ästhetischer Hinsicht sucht er die Nähe zum US-HipHop, mit seinem großen Vorbild würde Daddy Yankee auch gerne ins Studio gehen: „Ein Projekt mit Dr. Dre ist schon länger geplant“, erklärt der 28-jährige Reggaeton-Star stolz. Der Produzent und Rap-Star aus den USA ist sein absolutes Idol, obwohl er früher nicht einmal dessen Texte verstand. So hielt er sich als Jugendlicher an die Videos und die Rhythmen, um halbwegs zu verstehen, worum es beim US-HipHop ging.

Die Sprachprobleme hat Raymond Ayala alias Daddy Yankee längst im Griff. Inzwischen hat er nicht nur begriffen, wie man international auf sich aufmerksam macht, sondern auch zu den großen HipHop-Brüdern in den USA aufgeschlossen. Als Model für die Sommerkollektion von US-Rapper P. Diddy alias Puff Daddy über den Laufsteg zu gehen, gehört zur Arbeit an seiner Karriere genauso dazu wie die Promotion eines eigenen Films: „Straight from Barrio“, bei dem Daddy Yankee vor der Kamera steht, soll vom Leben in den Ghettos von San Juan, der Hauptstadt Puerto Ricos, erzählen. „Sozialkritisch soll der sein und die Menschen dazu inspirieren, die richtigen Entscheidungen für ihr Leben zu treffen“, sagt er.

Er jedenfalls hat das geschafft: Mit weit über einer Million verkaufter CDs ist er nicht nur in seiner Heimat, sondern auch in den Latinogemeinden der USA und ihrem mittelamerikanischen Hinterhof ein Star. In Kolumbien stand Daddy Yankee im Frühjahr vor sechzigtausend Fans auf der Bühne, und Anfang Juni gehörte er zu den Headlinern der traditionellen Puerto-Rico-Parade in New York. Als Pate der Jugend wurde der Gast aus Puerto Rico von der New Yorker Latinogemeinde gefeiert. Ein echtes Heimspiel war der Zug durch die Straßen New Yorks, und natürlich hatte Daddy Yankee ausreichend Gelegenheit, den über zwei Millionen Besuchern der Parade seinen aktuellen Superhit „Gasolina“ gleich mehrfach zu präsentieren.

Seit Mitte der Neunzigerjahre hofiert der smarte MC das New Yorker Latinpublikum. Kein Zufall, denn die puerto-ricanische Community hat er sich als Sprungbrett für den internationalen Erfolg ausgewählt. Rund 900.000 Nuyoricans, wie sich die Einwanderer aus der den USA angegliederten Antilleninsel nennen, leben dort. Schon 2003 fand im Madison Square Garden vor 18.000 Fans das erste Reggaeton-Festival statt. Im letzten Jahr folgte die zweite Auflage, zu der alles anreiste, was Rang und Namen in der Reggaeton-Szene hat: Tego Calderón, Don Omar, Ivy Queen, Vico C. und natürlich Daddy Yankee.

Deren treibender, blechern scheppernder, vom HipHop inspirierter Dancehall-Sound stammt zumeist aus dem Drumcomputer und wird bei Bedarf ergänzt durch Salsa-Bläsersätze, Cumbia- und Bomba-Percussions oder Merengue-Rhythmen. Über diese Basis legen die MCs ihre spanischen Lyrics. In Puerto Rico hat der Sound aus den Barrios längst die Salsa in der Gunst der Jugend abgelöst: Salsa bleibt den über Dreißigjährigen und den Familienfeiern vorbehalten, während die Jugend des Landes dem Reggaeton frönt und den Perrero tanzt.

Reggaeton-Texte beschäftigen sich mit den Realitäten in den Barrios: mit Kriminalität, alltäglicher Gewalt, Drogenproblemen, mit der Korruption, vor allem aber mit Sex. In den Lyrics, und manchmal auch in den Beats, klingt Reaggeton wie das Latino-Pendant zum Gangsta-Rap aus den USA. Für die Mehrheit der Latinojugend ist das neue Genre jedoch Ausdruck der eigenen, oftmals düsteren Realität. Direkt und unverblümt wie die Texte ist auch der Perrero, der Tanz zum Genre. Erotisch und körperbetont, wird Reggaeton von Fans wie Gegnern der Musik als „Sex in Kleidern“ bezeichnet.

Speedy, einer der Newcomer der puerto-ricanischen Szene, hat gleich eines seiner Stücke, „Haciendo Amor en La Ropa“ – zu deutsch „Sex in Klamotten“ – danach benannt. Der 25-Jährige, dessen erste Single „Sientelo“ („Fühl es“) inzwischen auch hierzulande in den Charts steht, lässt seine Texte vorwiegend um Frauen und Sex kreisen: Keine Ausnahme im vom Machismo geprägten Puerto Rico und einer der Gründe, weshalb das Genre von der älteren Generation in Puerto Rico als vulgär oder gar obszön abgetan wird. Der eigentliche Grund für solche Widerstände sei die Tabuisierung von Sex in der puerto-ricanischen Gesellschaft, kontert Speedy im Interview.

Zwischen Reggaeton-Stars wie Speedy und Daddy Yankee gibt es handfeste Unterschiede: Letzterer genießt in Puerto Rico viel Respekt, weil er sich in seinen Texten auch mit der notorischen Korruption und der sozialen Misere in den Barrios beschäftigt. Er ruft zur Solidarität auf und appelliert nicht nur in „Salud y Vida“ („Gesundheit und Leben“) an die Bewohner der Barrios, zusammenzuarbeiten, um ihren Kindern eine bessere Zukunft zu ermöglichen.

Daddy Yankee weiß, wovon er singt. Aufgewachsen ist der Sohn eines Salsa-Percussionisten schließlich im Ghetto von „Villa Kennedy“ im Stadtteil Santurce von San Juan. Als Siebzehnjähriger geriet er in eine Gangschießerei und wurde am Bein verwundet, daraufhin musste der Baseballfan den Traum von einer Sportkarriere beerdigen. Was blieb, war die Musik. Auf die konzentrierte sich Daddy Yankee fortan, längst besitzt er sein eigenes Label.

Die Ursprünge der Reggaeton-Szene liegen in Panama, wo zu Beginn der Neunzigerjahre „El General“ spanische Lyrics über jamaikanische Riddims schob. Allerdings wurde das Genre erst in Puerto Rico verfeinert und zum Reggaeton weiterentwickelt. Inzwischen erstreckt sich die Reggaeton-Szene quer über die ganze Karibik, mit Dependancen in Miami, Los Angeles oder Orlando.

Für den MC Pitbull ist der Reggaeton damit zur Bewegung geworden. Mit „Culo“ und „Toma“ hat der emigrierte Kubaner schon zwei Hits zur aktuellen Reggaeton-Welle beigesteuert. Anders als die meisten Puerto-Ricaner, bedient er sich in seinen Raps einer Mischung aus Englisch und Spanisch, des so genannten Spanglish. Seinem Vorbild werden wohl noch viele der Latinrapper aus dem Süden der USA folgen. Unter etablierten Acts des Latin-HipHop wie Cypress Hill und anderen ist es mehr und mehr zur Pflicht geworden, mindestens einen Reggaeton-Remix im Programm zu haben, oder gleich eigene Reggaeton-Songs zu verfassen.

Auch in Kuba hat sich in den letzten Jahren eine höchst aktive Reggaeton-Szene entwickelt. Festivals vor 30.000 Fans sind in Havanna inzwischen keine Seltenheit mehr, und lokale Bands wie Maxima Alerta und Cubanito 20-02 sind mit einem Auftritt im Teatro Carlos Marx, der früher vornehmlich den Revolutionsbarden vorbehalten war, schon quasi in den Adelsstand der kubanischen Musik gehoben wurden. Die Stars der kubanischen Reggaeton-Szene kommen nahezu geschlossen aus dem Osten der Insel. Der Grund ist einfach: Dort, in Santiago de Cuba, Baracoa oder Holguín, sind Irie-FM und andere jamaikanische Sender gut zu empfangen.

So machen die aktuellen Riddims schnell unter den Musikern die Runde. Wesentlich melodiöser und abwechslungsreicher als der puerto-ricanische Style ist die kubanische Reggaeton-Variante. Bands wie Candyman, Klan Destino, El Medico, Maxima Alerta oder Candyman verpacken immer wieder Zitate und Verweise auf die Musikgeschichte der Insel in ihre Tracks, experimentieren stärker mit der Timba, der kubanischen Salsa, und sind auf dem besten Weg, einen eigenständigen Stil zu entwickeln. Auch ihre Texte haben kaum etwas mit denen aus der Feder von Daddy Yankee und Co. zu tun. Gewalt, Gangs und Drogen sind in Kuba wenig verbreitet, entsprechende Texte stoßen bei der Jugend, noch mehr aber bei den staatlichen Stellen, auf wenig Verständnis.

Schon aufgrund der anzüglichen Texte gibt es manchmal Probleme mit dem offiziellen Kuba. Künstler wie Candyman sind als banal und obszön verschrien, einige ihrer Stücke stehen auf dem Index: Sie sollen in Schulen und Diskotheken nicht mehr gespielt werden. Doch provokante Lyrics gehören für Candyman dazu, um auf sich aufmerksam zu machen. Schließlich träumen er, wie auch seine Kollegen von Maxima Alerta und Cubanito 20-02 davon, einmal im Ausland entdeckt zu werden und zu Auftritten nach Übersee zu reisen.

Die Chancen dafür stehen derzeit gar nicht schlecht für die Aushängeschilder der kubanischen Reggaeton-Szene. Das Terrain dafür, dass die Reggaeton-Welle auch nach Europa schwappt, wird gerade von Stars aus Puerto Rico wie Daddy Yankee und Speedy bereitet. Die Kubaner, die dem Reggaeton-Movement einige zusätzliche Nuancen verpassen, müssen auf diesen Zug nur noch aufspringen. Maxima Alerta etwa werden demnächst in Frankreich ihr neues Album vorstellen. Darauf ist auch „Echar pa’lante“ zu hören, der kubanische Sommerhit des letzten Jahres. Er könnte bald auch hierzulande die Runde machen.

Daddy Yankee: „Barrio Fino“, Speedy: „Nueva Generacion“, „Best Of Reggaeton“ (alle Universal), „Perrea! El Disco de Reggaeton“ (Vale/MDM)