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Ich schrieb bereits an anderer Stelle, dass der Lockdown bei mir für relative Enthaltsamkeit sorgt. So rauche ich schon seit Monaten nicht mehr. Auch sonst gehe ich neue Wege. Als Belohnung fürs Nichtrauchen habe ich das Anfängermodell eines Vaporizers erworben, um damit tabakfrei ein Heilkraut zu verdampfen, von dem ich zufällig noch einen alten Rest in der Kommode fand.

Ich nenne es hier mal Schlaukraut, denn nach nur zwei Zügen kann ich auf einmal ganz klar sehen, wie scheiße ich eigentlich bin. Was nie an guten Tagen oder in Gesellschaft funktioniert, klappt umso besser allein und an schlechten Tagen: Dann schlägt das Schlaukraut böse an. Ich grüble, problematisiere und ziehe vernichtende Lebensbilanzen. Oder frei nach Kafka: Als Uli Hannemann eines Abends einen Hieb aus seinem Verdampfer nahm, fand er sich auf seinem Sofa zu einem winzigen Wurm verwandelt.

Und heute ist wohl so ein schlechter Tag. „Bitte schreib nie wieder irgendwas“, murmle ich vor mich hin. „Das ist alles so wahnsinnig schlecht, oh mein Gott!“ Ich merke, wie mir das Blut heiß in den Kopf schießt, obwohl sonst niemand da ist. „Damit bin ich auf die Bühne gegangen“, hauche ich fassungslos. Wie anmaßend, wie peinlich!

Ich bin so ein schlechter Autor. Warum merke ich das erst jetzt? Der Kaiser ist nackt und hat sich eingekackt. Es ist, als hätte ich vom Baum der Erkenntnis geraucht. Ich bin auch ein schlechter Mann, ein schlechter Lover, ein schlechter Freund, ein schlechter Bekannter, ein schlechter Kollege, ein schlechter Bruder, ein schlechter Onkel, ein schlechter Sohn, ein schlechter Koch, ein schlechter Spieler, ein schlechter Verlierer. Ich bin rundum ein schlechter Mensch. Faul, verkommen, unfähig und dumm – okay, dumm war ich schon immer, da liegt sicher auch die Wurzel des Problems.

Das alles erkenne ich jetzt mit erschreckender Deutlichkeit, denn erst im schlaukrautbedröhnten Zustand zeigt sich mir die Wahrheit wie ein offenes Blatt. Maßgeblich für eine unbestechliche Selbstwahrnehmung ist nun mal nicht der von keinerlei Substanzen supportete „Normalzustand“ (ohnehin ein schreckliches Wort!), sondern dessen coole große Schwester: der konstruktive Rausch. In vino veritas. Oder eben in Schlaukraut.

Eitel ist hingegen das Trugbild der sogenannten Nüchternheit, das Selbstwert und Zufriedenheit vorgaukelt und mir so die Illusion einer Art basalen Lebensberechtigung verschafft. Doch genau darin liegt ja der Irrtum. Nüchtern lüge ich mich und andere gewieft an. Nur das Schlaukraut hilft mir als Katalysator, mich so zu sehen, wie ich wirklich bin und wie mich garantiert auch jeder sieht, sosehr ich mich im Alltag noch verstellen mag: eine räudige kleine Ratte, verachtet, verlacht und bestenfalls bemitleidet.

Dabei hatte ich doch gedacht, dass es mir gut ginge. Dass ich gemütlich den Verdampfer ausprobiere und einen lustigen Abend habe, eine Party für mich allein. Im Fernsehen läuft ein unwichtiges Fußballspiel, normalerweise das ideale Hintergrundgeräusch, um gepflegt freizudrehen. Ich werde klug und fröhlich sein, eins mit mir und meinem Schlaukraut. Ich feiere mich und mein Leben. Hatte ich gedacht.

Aber Pustekuchen. Ich bin nicht fröhlich. Stattdessen nagen Zweifel wie Rost an der Birne. Hoffentlich fällt jetzt nicht die Decke runter oder ich bekomme einen Herzinfarkt. Und warum bin ich bloß so entsetzlich scheiße? Meine negative Reaktion auf das Schlaukraut zeigt mir an, dass mich irgendwas subtil belastet: vielleicht ja doch die Pandemie? Das ideale Setting für eskapistische Experimente scheint die jedenfalls nicht zu sein.

Uli Hannemann

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