: Der Kleinbürger vom Bodensee in einer echten Schatzkiste
HÖRBUCH „Nichts ist ohne sein Gegenteil wahr“: Fünfzehn Stunden Interviews und Gespräche mit Martin Walser aus fünf Jahrzehnten
Überhaupt all das Zeug, das aus dem Meer kommt, sagt der Mann, das esse er nicht so gerne. Nicht einen Kilometer zu Fuß würde er dafür gehen. Lieber habe er etwas aus Mehl und Milch und Eiern. Herstellen könne er das allerdings selbst nicht. Seine Frau wiederum, auf die er angewiesen sei, sei ein wenig verhetzt von diesen neuen Speisetheorien und würde ihn am liebsten mit Reis verköstigen. Aber: „Dann und wann setze ich dann doch einen Pfannkuchen durch.“
Der Mann, der da spricht, heißt Martin Walser; wir schreiben das Jahr 1974, und Walsers Stimme klingt noch ein wenig dünn. Beinahe zurückhaltend, scheu ist sein Auftritt. Das wird sich ändern. Sonst allerdings, das stellt man mit Erstaunen fest, ändert sich nicht so wahnsinnig viel. Wobei die Äußerung bezüglich seiner Leibspeise wahrscheinlich die kurioseste Fundstelle sein dürfte in einer Sammlung von Gesprächen mit Martin Walser, die nun auf einer Hör-DVD erschienen sind.
Rund fünfzehn Stunden Interviews sowie die fünfteilige Frankfurter Poetikvorlesung aus dem Jahr 1981 sind hier gesammelt, und man muss von der Hebung eines wundersamen Schatzes sprechen, und das in gleich mehrfacher Hinsicht. Das älteste Tondokument datiert aus dem Jahr 1969; das jüngste ist ein Gespräch über Walsers Goethe-Roman „Ein liebender Mann“ aus dem Jahr 2009.
Es lassen sich anhand der Aufnahmen gleich mehrere Linien nachvollziehen. Zum einen ist es der Arbeits- und Lebensweg des Schriftstellers Walser, der kürzlich seinen 85. Geburtstag feierte und in ungebrochener Produktivität seinen jährlichen Roman abliefert. Zum anderen zeugt die Akribie, mit denen die Fragesteller (darunter Peter Wapnewski, Herbert Heckmann und Heinz Ludwig Arnold) ihre Interviews vorbereitet haben, von einer Zeit des Radiojournalismus und der Literaturkritik, in der es nicht auf Schnellschüsse und Pointen, sondern auf das einzelne Wort ankam, um das zur Not auch mal Minuten lang gerungen wurde. Die Kriterien und das Vokabular, die man an Literatur anlegt und mit dessen Hilfe Literatur beschrieben wird, haben sich verändert. Walser, das zeigt sich, ist bei all dem mitgegangen und doch von Anfang an der gewesen, der er ist. Von Klassenbewusstsein ist die Rede, von Ausbeutung und entfremdeter Arbeit (beispielsweise in Zusammenhang mit der Anselm-Kristlein-Trilogie oder mit dem Roman „Seelenarbeit“), doch letztendlich, das ist das Erstaunliche, sind die historischen Brüche und die Paradigmenwechsel der Zeit weniger an Walsers Antworten als an den Fragen abzulesen.
Walser war Walser. Seine Poetologie eines radikalen Subjektivismus (und das unumstößliche Beharren auf dessen Gültigkeit) zieht sich durch politische und gesellschaftliche Strömungen der Jahrzehnte. Es mag mit den Jahren etwas weniger biegsam, knorriger geworden sein, wie auch seine Stimmfärbung sich in diese Richtung verändert hat. Trotzdem ist es erstaunlich, mit welcher Gelassenheit und Geduld (und trotzdem nicht ohne Schärfe) Walser sich über Marcel Reich-Ranicki, dessen Verriss des Romans „Jenseits der Liebe“ und die vermeintlich erzieherische Wirkung des Kritikers auf den Schriftsteller äußert. In den 2010 veröffentlichten Tagebuchaufzeichnungen aus den Jahren 1974 bis 1978 erscheint die Wunde, die da geschlagen wurde, weitaus tiefer, nachhaltiger.
Aus Prinzip uneindeutig
Es sei, so sagte Martin Walser es im vergangenen Jahr anlässlich des Erscheinens von „Muttersohn“, vollkommener Irrsinn, den Schriftsteller für das verantwortlich zu machen, was er schreibe. Das Beharren auf dem Eigenleben seiner Figuren und deren Denken gehört zum Stilprinzip von Walsers Prosa. Das Uneindeutige ist Prinzip –„Nichts ist ohne sein Gegenteil wahr“ ist nicht der schlechteste Titel für die Interviewsammlung. Und noch ein Grundimpetus für das Schreiben wird deutlich: die Selbstverteidigung. Walser-Romane als Gegenstrategie; als Gegenschlag auf einen Angriff hin, den niemand außer ihm selbst als solchen empfunden hat. Ein ständiges Spiel von Reiz und Reaktion.
Man wirft sie ihm bis heute vor, diese bundesrepublikanischen Kleinbürgerfiguren aus Süddeutschland, in deren Darstellung er schwankt zwischen Ironie und Identifikation. Auch hier sind Person und Werk deckungsgleich: Auf der CD finden sich mehrere engagierte Apologien des Kleinbürgers als die eigentlich dynamische, gesellschaftliche Prozesse bestimmende und sich selbst ausbeutende Klasse. Und die braucht hin und wieder auch mal einen Pfannkuchen. CHRISTOPH SCHRÖDER
■ „Nichts ist ohne sein Gegenteil wahr. Martin Walser über sich und sein Werk“. Quartino Verlag, München 2012, 1 DVD, ca. 15 Stunden, 29,95 Euro