Goodbye, Bürgerrechtler!

Die letzten Ex-DDR-Bürgerrechtler aus Berlin verabschieden sich aus dem Bundestag. Rainer Eppelmann geht freiwillig, Günter Nooke und Werner Schulz kämpfen einen aussichtslosen Wahlkampf. Längst hat das Etikett „Bürgerrechtler“ an Bedeutung verloren. Was wird von ihnen bleiben?

Was das genau ist, ein Bürgerrechtler, das haben sie nie ganz geklärt

VON MATTHIAS LOHRE

Als Werner Schulz das Rednerpult im Bundestag verlässt, nach seiner wütenden Erklärung gegen Schröders Vertrauensfrage, da ist es nicht einer seiner Grünen-Fraktionskollegen, der auf Schulz zueilt, ihm die Arme auf die Schultern legt und sagt: „Danke, dass du das gesagt hast. Sonst hätte ich’s sagen müssen.“ Es ist nicht mal ein Politiker des Koalitionspartners SPD. Vor Werner Schulz steht am 1. Juli 2005 ein alter Bekannter, der CDU-Abgeordnete Rainer Eppelmann.

Jeden einzelnen Satz der kurzen Rede des Bundestagsabgeordneten Schulz habe er unterstreichen können, wird Eppelmann später sagen. Nicht nur den über das „inszenierte, absurde Geschehen“ der „fingierten Vertrauensfrage“. Auch die Passage, als Schulz wutbebend rief: „Mir ist die Demokratie nicht geschenkt worden. Mit einigen anderen musste ich unter gefährlichen Umständen Demokratie und Freiheit erst erkämpfen. Schon deswegen sind mir die Grundregeln der Demokratie, wie sie in unserem Grundgesetz stehen, ein hoher Wert.“

Zu den „einigen anderen“ zählt Eppelmann auch sich selbst, den ehemaligen Pfarrer der Friedrichshainer Samariter-Kirche und letzten Verteidigungsminister der DDR. Nur den Vergleich zwischen den demokratisch gewählten Abgeordneten des Bundestags und den Abnickern der DDR-Volkskammer, den habe er nicht gutheißen können. Was soll’s. Die Gemeinsamkeiten überbrückten in diesem Augenblick die Parteiengrenzen zwischen den ehemaligen DDR-Bürgerrechtlern.

Aber was das genau ist, ein Bürgerrechtler, und was sie miteinander verbindet, jenseits einiger parallel gelebter Jahre unter Stasi-Bewachung und während der turbulenten Wendezeit 1989/90, das haben Schulz, Eppelmann und die anderen nie ganz geklärt. Die anderen, dazu zählt in Berlin noch der CDU-Mann Günter Nooke.

Um herauszufinden, was den früheren Berliner Bürgerrechtlern im Bundestag heute noch gemeinsam ist, ist es bald zu spät. Im September wird Rainer Eppelmann nicht mehr um eine Verlängerung seines Direktmandats im Wahlkreis Märkisch-Oderland Barnim II kämpfen, nach 15 Jahren im Bundestag. Günter Nooke und Werner Schulz wurden von ihren Landesverbänden fallen gelassen. Vor drei Jahren hatten ihre Parteien sie noch als Spitzenkandidaten aufgestellt, in diesem Jahr verweigern sie ihnen selbst einen hinteren Listenplatz. Ohne Absicherung auf der Landesliste treten sie als Direktkandidaten in Pankow gegeneinander an.

Lachender Dritter im Bezirkskampf wird voraussichtlich einer sein, der wegen seiner eingebauten Mahnerfunktion und des Vollbarts für einen der Ihren gehalten wird, aber nicht dazugehört: SPD-Kandidat Wolfgang Thierse. Der Bundestagspräsident hat vor drei Jahren den Bezirk direkt gewonnen. Zum ersten Mal und mit massiver Unterstützung von Werner Schulz. Gemeinsam traten sie im Wahlkampf auf, warben um die Erststimme für Thierse und die Zweitstimme für die Grünen.

Als Bürgerrechtler bezeichnet sich Thierse selbst nicht. Es wäre auch etwas zu viel gesagt für einen, der nach zwölf Jahren eher unauffälliger Arbeit an der Akademie der Künste erst 1989 in die Öffentlichkeit trat – mit seinem Beitritt zum Neuen Forum. Er habe einmal die Bezeichnung „gesamtdeutscher Ossi“ über sich gehört, sagt Thierse. Und lacht. Damit kann er leben. Andere sehen das fast 16 Jahre nach der Wende weniger entspannt.

Rainer Eppelmann schüttelt energisch den Kopf. Zu eindeutig ist ihm die Antwort auf die Frage, ob er versöhnt sei mit dem Verlauf der Wiedervereinigung. „Nein, wir sind noch immer auf dem Weg. Dabei gibt es viel mehr Hindernisse als früher gedacht.“ Damit meint er die Unterschiede zwischen West und Ost. Etwa das Ohnmachtsgefühl vieler Ostdeutscher, das Gefühl der Überwältigung durch einen übermächtigen Westen. Nach einer Pause fügt er hinzu: „Aber es ist schon beachtlich, was für eine breite Schneise geschlagen worden ist. Die heutigen Probleme der Menschen haben weniger mit der Wiedervereinigung zu tun als damit, dass wir über unsere Verhältnisse gelebt haben.“

Nach seinem Abgang aus dem Bundestag will sich Eppelmann weiter um das kümmern, was ihm seit Jahren wichtiger ist als die glanzlose Arbeit im ländlichen Wahlkreis. Im Landesverband, beklagen Parteifreunde, habe er sich eh seit langem nicht gezeigt. Der 62-Jährige kümmert sich ums große Ganze, er ist Vorsitzender der Stiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur und Brandenburger Vertreter bei der Birthler-Behörde. Fast 40 Jahre, nachdem ihm seine Wehrdienst-Verweigerung acht Monate Haft eingebracht hat, wird Rainer Eppelmann hoch geehrt und freiwillig den Bundestag verlassen. Bei Werner Schulz ist das anders.

Auch Wochen nach seiner Rede ist Schulz noch aufgebracht. Er sucht nach neuen Worten, die das aus seiner Sicht Anstößige an Schröders und Münteferings Neuwahlcoup entlarven. „Es gibt zu viele, die Verfassungspatriotismus als Lippenbekenntnis ansehen“, sagt er. Und dann: „Bürgerrechtler kann und muss man auch in dieser Gesellschaft sein.“ Damit meint Schulz sich selbst. Doch mit dem Selbstverständnis ist er in der heutigen Parteienlandschaft in einer Sackgasse gelandet.

Als der weißbärtige Mann seine umstrittene Bundestagsrede hält, weiß er schon, dass ihn sein Landesverband nicht mehr im Parlament sehen will. Zu oft hat der „Querulant“ Schulz die Parteidisziplin attackiert, da hilft auch kein „Ostler-Bonus“ mehr. Die Berliner Grünen stellen den Mitbegründer von Neuem Forum und Bündnis 90 nicht wieder auf, nach 15 Jahren im Bundestag. Die Parteichefin Claudia Roth kleidete ihre Häme in Mitgefühl: „Das war heute das tragische Ende von Werner Schulz.“ Andere unkten, Schulz wolle nach seiner gescheiterten Listenkandidatur „verbrannte Erde“ hinterlassen.

Hinter dieser Kritik steckt ein Politikverständnis, das sich Handlungen ohne taktisches Motiv nicht vorstellen kann. Unfassbar scheint ihnen die Vorstellung, da könnte ein Politiker die Sonntagsreden über den Wert der Gewissensfreiheit wörtlich nehmen – und einfach aussprechen, was er als seine moralische Überzeugung versteht. Werner Schulz ist ein Fremder geblieben im wiedervereinigten Deutschland. Jetzt sieht es danach aus, als gehe die Zeit über ihn hinweg.

Mit Schulz und Eppelmann hat Günter Nooke, der dritte ehemalige Berliner Bürgerrechtler, zumindest eines gemeinsam: Auch Nooke ist ein Einzelgänger. Werner Schulz nannte Nooke, der mit ihm am Runden Tisch und in der letzten Volkskammer saß, einmal einen „Lausitzer Sturkopf“. Er wird es als Kompliment gemeint haben. Fuhr Nooke doch 1994 seine politische Karriere gegen die Wand, als der damalige Bündnis-90-Politiker die Ampelkoalition in Brandenburg platzen ließ. Er ertrug nicht mehr, mit einem SPD-Ministerpräsidenten namens Manfred Stolpe zusammenzuarbeiten, der Stasikontakte gehabt hatte. Zwei Jahre später trat er in die CDU ein, seit 1998 sitzt er für die Union im Bundestag.

Wie über Schulz und Eppelmann, so ist auch über den bärtigen, massigen Mann mit dem mürrischen Auftreten zu hören, er leiste zu wenig Kärrnerarbeit in seinem Landesverband. Doch diese Kritik ist nicht überraschend bei einer CDU, die auf ihrer Landesliste für die Bundestagswahl keinen einzigen Ostdeutschen nominiert hat. Nooke gibt sich trotzig: „Auch die Berliner CDU braucht sich eines ostdeutschen Bürgerrechtlers nicht zu schämen.“ Die Hauptstadt-Union ist eine Westpartei, und Nooke ist ein Fremdling.

Umso mehr Unterstützung bekam Nooke von seinem Kreisverband in Pankow, als es darum ging, sich für ihn oder den aufgepfropften Westkandidaten Christoph Stölzl zu entscheiden. Mit 24 zu 5 Stimmen gewann der Ostdeutsche. Vielleicht sein letzter Sieg. Seine Direktkandidatur hat kaum Erfolgschancen. Die Bezirksteile Pankow und Weißensee sind Hochburgen von PDS und SPD, und die vielen Neu-Prenzlauer-Berger wählen Rot-Grün.

Eppelmann, Schulz, Nooke – sie führen keine ähnlichen Leben. Eppelmann ist in höhere Sphären entschwunden, Schulz hat sich innerparteilich isoliert. Der 46-jährige Nooke hingegen hat es immer geschafft, seinen Dickschädel mit tagespolitischem Erfolg zu kombinieren. Seine Nische hat er gefunden als Kulturexperte der Union mit Faible für ostdeutsche Fragen: „Im Westen werde ich immer noch vielfach eher als Bürgerrechtler denn als Kulturpolitiker wahrgenommen. Dabei benutze ich selbst das Etikett ‚Bürgerrechtler‘ nicht. Andererseits gebe ich zu: Am 3. Oktober rede ich eben zur Einheit – und nicht über Kulturpolitik.“

Die Frage bleibt: Was ist ein Bürgerrechtler, und was haben sie im wiedervereinigten Berlin geleistet? Rainer Eppelmann sagt es so: „Bürgerrechtler sind selbstbewusste Bürger, die ihre Lebensgestaltung und die ihrer Mitmenschen nicht nur anderen überlassen. Übersetzt ins Jahr 2005 heißt das, nicht nur vom Überfluss abzugeben, sondern wirklich zu teilen. Eben auch dann, wenn man selbst wenig hat.“ Eppelmann glaubt eine „verschworene Gemeinschaft“ der Bürgerrechtler im Bundestag zu erkennen. Etwa, wenn einige von ihnen bei der Stiftung Aufarbeitung zusammenkommen und beraten, wie die SED-Diktatur im öffentlichen Gedächtnis bleiben kann. Günter Nooke assistiert, das Stasiunterlagen-Gesetz wäre ohne die so genannten Bürgerrechtler anders ausgefallen. Doch mit Blick auf die Zukunft ist er pessimistisch: „Es rücken wenige nach, die für dieselben Themen einstehen wie Vertreter unserer Generation.“

Die Wiedervereinigung ist schon lange nicht mehr das drängendste Thema im Land. Damit verlieren auch die Bürgerrechtler an Bedeutung. Manche haben sich im neuen Deutschland eingerichtet, andere nicht. Ein Beispiel: Anfang Juli, Vorstellung der Berliner SPD-DirektkandidatInnen. Wolfgang Thierse lächelt, als er von einem der anwesenden Journalisten erfährt, dass der gleich mit Werner Schulz sprechen werde. Es ist drei Jahre her, dass Schulz und Thierse gemeinsam in Pankow Bundestagswahlkampf machten. Und nur sechs Tage seit Schulz’ Brandrede unter der Reichstagskuppel, als Thierse in seiner Funktion als Bundestagspräsident den „lieben Kollegen“ mehrfach ermahnt, zum Ende seiner Rede zu kommen. Jetzt sagt Thierse: „Grüßen Sie ihn von mir, und sagen Sie ihm, er soll mal anrufen.“ Er habe sich schon so lange nicht mehr gemeldet.