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Archiv-Artikel

Rollstuhl wird zum Lehrstuhl

Sommerunis starten jetzt ihre Angebote. An der Technischen Universität wollen die Veranstalter auf Probleme behinderter Menschen aufmerksam machen. Von den Lösungen profitieren oft alle

VON KARSTEN SCHÜLE

Behindertentoiletten und -lifts, akustische Signale an Fußgängerampeln – behinderte Menschen, so scheint es, haben es heutzutage leicht. Doch wer Sonderlösungen braucht, wird ausgegrenzt, er ist immer noch ein Sonderfall. „Die Sinne schärfen für Menschen mit Handicap“ will daher die Technische Universität Berlin (TU). Unter dieses Motto stellt sie die heute beginnende Sommeruniversität – es ist nur eines von vielen Angeboten an Berliner Sommerunis (siehe Bericht unten). Bis zum 22. Juli versuchen die 50 Teilnehmer, barrierefreie Lösungen zu finden. Um Praxisnähe zu gewährleisten, halten sich Studierende und Betroffene anteilmäßig in etwa die Waage.

Die Wissenschaft habe eine große Verantwortung beim angestrebten Wahrnehmungswechsel, sagt Gerd Grenner, Leiter des Kompetenzzentrums barrierefrei Planen und Bauen an der TU. „Wir müssen die Fachgebiete dazu kriegen, kompetente Lösungen zu entwickeln.“ Bisher lasse die Kommunikation zwischen den Fachgebieten sehr zu wünschen übrig. Grenner fordert Barrierefreiheit für alle. Seine These: Wenn für gehandikapte Menschen keine Sonderlösungen mehr erdacht werden müssen, wird Behinderung nichts Besonderes mehr sein – die Ausgrenzung wird eingeschränkt.

Natürlich müssen auch zukünftig die Belange Behinderter Berücksichtigung finden. Die Ausstattung heutiger Linienbusse mit breiten Gängen, großzügigen Freiflächen und Rampen ist für Rollstuhlfahrer zum Beispiel unerlässlich. Schon zu Beginn der 80er-Jahre forderten Behindertenverbände, die so genannten Standard-Linienbusse umzurüsten oder zu ersetzen. Das habe zu einer harten Auseinandersetzung geführt, erzählt Martin Marquard, Landesbehindertenbeauftragter und Referent an der Sommeruni. „Technisch nicht machbar“, so das damalige Urteil von Industrie und Verkehrsbetrieben. Heute, rund 25 Jahre später, fahren auf Berlins Straßen überwiegend Niederflurbusse. Die geringe Bodenhöhe von 25 Zentimetern erleichtert auch Menschen mit Gehschwäche oder mit einem Kinderwagen das Einsteigen.

Marquard liegt viel daran, auf den Allgemeinnutzen von Lösungen hinzuweisen. Zwar seien auf die ein oder andere Maßnahme lediglich 10 Prozent zwingend angewiesen. Weitere 30 bis 40 Prozent der Leute könnten aber nur schwer darauf verzichten. Und „für alle anderen bedeutet es einfach mehr Bequemlichkeit“, sagt Marquard. Ein räumlich großzügig gestaltetes Hotelzimmer zum Beispiel sei für alle komfortabler.

Der Wunsch, es allen recht zu machen, kann aber auch zu Konflikten führen. So kollidieren etwa die Bedürfnisse von Rollstuhlfahrern und Blinden, wenn es um die Höhe der Bordsteine geht. „Während der eine für seinen Taststock eine leicht zu erfühlende Kante benötigt, ist der andere für seinen Rollstuhl auf eine geringe Höhe angewiesen“, erklärt Tanja Zimmermann, die an der Sommeruni über die „Barrierefreiheit von Straßenverkehrsanlagen“ referiert.

Derzeit jedoch werden beide Gruppen gleichermaßen behindert. So hat der Verein Albatros die Barrierefreiheit von Berliner Gebäuden mit Publikumsverkehr untersucht. „Für Rollstuhlfahrer und Sehbehinderte sind lediglich 10 Prozent problemlos nutzbar“, klagt Projektleiterin Anette Pilawski.

Die Sommeruni versucht dem ganz praktische Lösungen entgegenzusetzen. In dem Wettbewerb „Barrieren benennen – Barrieren überwinden“ sollten Studierende Hindernisse am Ernst-Reuter-Platz erkennen und Lösungen erarbeiten. Ihre Ergebnisse werden nun mithilfe von Fachkräften und Betroffenen ausgewertet. Der beste Vorschlag wird am 22. Juli mit dem neu ins Leben gerufenen Erhard-Böttcher-Preis prämiert. Der Architekt Böttcher hatte sich bereits Anfang der 80er-Jahre für barrierefreies Bauen engagiert.