: Clever und smart
Eine Midlifecrisis als Schelmenroman mit tragischem Ausgang: Hans-Ulrich Treichel erzählt in seinem neuen Roman „Menschenflug“ von einem mittelalten Mann mit Zwischenbilanzbedarf
von CHRISTOPH SCHRÖDER
Ein Mann sitzt in einer Dachwohnung und hat Angst. In einigen Tagen wird er 52 Jahre alt; es nähert sich bedrohlich schnell das Alter, in dem sein Vater gestorben ist, weil das Herz nicht mehr mitmachte. Und auch dem Mann in der Dachwohnung, Stephan, lastet so einiges auf dem Herzen, genauer gesagt: Er hat ein Stolperherz, in mehrfacher Hinsicht. Stephan ist Melancholiker und Akademischer Rat mit Lehr- und Verwaltungsaufgaben im Bereich Deutsch als Fremdsprache an der Freien Universität, und etwas stimmt gerade nicht. Es muss etwas geschehen.
Stephan ist eine ganz und gar typische Treichel-Figur, ein nicht immer sonderlich geschickt auftretender, leicht verwirrter Charakter mit akademischem Bildungshintergrund und einer gelegentlichen Tumbheit, derer er sich selbst bewusst ist und die er auf seine ostwestfälische Sozialisation zurückführt. Er ist eine Romanfigur mit literarischer Treichel’scher Geschichte – bald erfahren wir, dass Stephan vor einiger Zeit eine Erzählung geschrieben hat, die eine Leerstelle zu füllen versuchte; die Geschichte des Findelkindes mit der Nummer 2307, das Stephans Eltern auf der Flucht aus Wolhynien zurückgelassen haben. Der Titel von Stephans Erzählung ist identisch mit Treichels stark autobiografischem Buch „Der Verlorene“ von 1998. In „Menschenflug“ wird die Motivation für die literarische Aufarbeitung nachgeliefert: „Zwar hatte er den paradoxen Wunsch, sich durch Schreiben von der Last einer fehlenden Erinnerung und von Phantomschmerzen zu befreien. Aber er hatte nicht den Wunsch, die Phantomschmerzen durch echte Schmerzen und die Phantome durch Realgestalten zu ersetzen.“
Nun scheint für Stephan der Zeitpunkt gekommen zu sein, das zu ändern. Stephan also, in seiner Dachwohnung, die Furcht vor dem Tod in sich, hat „Zwischenbilanzbedarf“, leidet an einem beinahe körperlichen Schmerz, der sich medizinisch nicht therapieren lässt: „Vergangenheitsarthrose“. Oder „Geschichtsrheumatismus“ (nur zwei der ebenso komischen wie treffenden Wortschöpfungen, die sich in „Menschenflug“ immer wieder finden lassen).
Was Stephan antreibt, ist auch ein Aufbegehren gegen das Schicksal seiner Generation, in einer unverschuldeten Schicksallosigkeit aufgewachsen zu sein, in materiell befriedeten Verhältnissen und wachsendem Wohlstand. Stattdessen gibt es „nur schlechte Schulnoten, einen cholerischen, arbeitswütigen Vater und eine von Schuldgefühlen und der Sehnsucht nach ihrem Kind zermürbte Mutter.“ Weiterhin immer genug zu essen, Sonntagsausflüge im neuen Opel und viel Regen in Westfalen. Da kann man schon einmal verzweifeln.
Wenn Hans-Ulrich Treichel von einer Kindheit erzählt, wie Stephan (und er selbst?) sie hatte, dann erzählt er auch immer von einem Leben in den Gründerjahren der Bundesrepublik, von der Bereitschaft mit allzu wenig zufrieden zu sein, wenn nur der Tisch gedeckt war, und vom nachhaltigen Unglück, das diese Haltung erzeugen kann. Das klingt geradezu furchtbar ernst, ist aber in der Lektüre das genaue Gegenteil davon. Denn die Trauer und die Tragik von Treichels Prosa ist stets sorgfältig eingewickelt in eine grundlegend und bis in die Syntax durchhumorisierte Sprache. Wenn Stephan beispielsweise versucht, Wilhelm abzuschütteln, einen Mann, der sich ihm als „Verlorener“ vorgestellt hat und der ihn nicht mehr in Ruhe lässt, ihn sogar verfolgt, dann gewinnt der Text „Clever und Smart“- Qualität in literarischem Kontext – eine ebenso seltene wie gelungene Kombination. Treichel beherrscht die Parodien unterschiedlicher Stile, weiß Effekte zu setzen, ist ebenso intelligent wie unterhaltsam auf hohem Niveau und kann ganz herrlich albern sein, ohne dabei ins Triviale abzurutschen.
Ebenso klar ist jedoch, dass diese sorgsam elaborierte Rhetorik des Komischen und die Grimassen, die diese Helden schneiden, Camouflage sind für eine Verzweiflung in tieferen Schichten. Stephan, der bis zu einem gewissen Zeitpunkt sein Leben mit traumhafter Sicherheit so gestaltet hatte, „daß nichts funktionierte: weder die Freundschaft, noch die Liebe“, der nun, mit einer Psychotherapeutin verheiratet, ausgestattet mit zwei Stieftöchtern und bis vor kurzem auch noch mit einem diffusen Gefühl von Zufriedenheit, dieser Stephan nimmt sich eine einjährige Auszeit von seiner Familie und zieht in besagte Dachgeschosswohnung. Das macht man nicht einfach so. „Menschenflug“ ist eine Midlifecrisis als Schelmenroman mit tragischem Ausgang.
Diese Krise manifestiert sich in unterschiedlichsten Spielarten: In der Vorliebe für bunte Hemden oder einer Ägyptenreise, auf der Stephan unter Mühen mit einer attraktiven Archäologin schläft – ein stetiges Schwanken zwischen (selbst eingestandener) Lächerlichkeit und Tragik. Der Schmerz, den Stephan mit „Der Verlorene“ literarisch aufgearbeitet zu haben glaubte, ist wieder da, nur noch stärker und machtvoller. Vergilbte Papiere, die die Eltern zurückgelassen haben, Ortsnamen wie Rozysccze, Bryszcze (oder Bryschtsche), Wolhynien – all das kreist in immer engerem Radius durch den Roman, bis Stephan den Entschluss fasst, seinen verlorenen Bruder zu suchen. Bei der Restfamilie, die fürchtet, ihr Erbe teilen und die Eigentumswohnung in Bad Pyrmont verkaufen zu müssen, löst das kaum Begeisterung aus. Allein – der Mann, den Stephan in Celle aufspürt, das Findelkind Nr. 2307, das nun Hermann heißt, dieser Mann erfüllt nicht eine einzige der Erwartungen, die sich in vielen Jahrzehnten aufgebaut haben.
Der Versuch einer Aufarbeitung der Familienvergangenheit: Man macht sich auf die Suche nach seinem seit fünfzig Jahren verlorenen Bruder und landet letztendlich im Uelzener Hundertwasser-Bahnhof und auf dem in Uelzen stattfindenden Treffen der Wolhyniendeutschen, wo es salzarmes Hühnerfrikassee gibt und das Wolhynierlied: „Angespannt und schwer beladen stand der Wagen vor der Tür. Manche Sachen, o wie schade, blieben hier noch liegen mir. Der Wolhynier mußte nicht nur Flucht, Zwangsumsiedlung und Vertreibung ertragen, dachte Stephan, sondern auch das Wolhynierlied.“ Ein ernüchterndes Ergebnis eines Zwischenbilanzbedarfs. Und das Stolperherz kurieren solche Einsichten schon gar nicht.
„Menschenflug“ ist kein perfekter Roman. Ganz streng genommen ist es sogar weniger ein Roman als eine geschickt verbundene Aneinanderreihung von Einzelszenen, die sich aus einem nicht völlig neuen Themenfundus speisen (den Treichel in seinem kürzlich erschienenen Essayband „Der Felsen, an dem ich hänge“ noch einmal gesammelt präsentiert hat). Das ändert aber nichts daran, dass es in der deutschen Gegenwartsliteratur nicht viele Autoren gibt, die Texte schreiben können, in denen man so viele wahre Einsichten findet. Schlaue Menschen, die sich ungeschickt anstellen, wenn es ernst wird. Die nicht glücklich werden können und auch nicht richtig unglücklich sind. Grinsen und Grimassieren sind sich eben doch sehr ähnlich.
Hans-Ulrich Treichel: „Menschenflug“. Suhrkamp, Frankfurt am Main 2005, 234 Seiten, 17,80 €