: Sachsen-Anhalt, das Pisa-Mysterium
Die Fachwelt rätselt, warum Sachsen-Anhalt trotz schlechter sozioökonomischer Lage bei Pisa derart zugelegt hat
Seit der Veröffentlichung des neuen Pisa-Bundesländervergleichs laufen die Kultusminister der Union mit stolzgeschwellter Brust durch die Republik. Mit Bayern, Sachsen, Baden-Württemberg und Thüringen stehen vier unionsgeführte Länder an der Spitze der Ranglisten. Das aber reicht den Konservativen nicht. Sie wollen diesen Erfolg allein auf ihre Bildungspolitik zurückzuführen. Das gute Abschneiden von Sachsen und Thüringen widerlege, sagt Baden-Württembergs Kultusministerin Annette Schavan (CDU), dass der sozialökonomische Kontext eines Landes entscheidend für die schulischen Leistungen sei. Das gelte auch für den Zugewinn von Sachsen-Anhalt.
Damit widerspricht Schavan, die als künftige Ministerin gehandelt wird, nicht nur allen bisherigen Pisa-Veröffentlichungen. Sie watschte auch eine Studie des Essener Bildungsforscher Klaus Klemm ab, der im Auftrag der GEW jüngst auf die Bedeutung dieser Rahmendaten hinwies. Das Problem dabei: Die Kultusministerkonferenz hat bislang nur Teilergebnisse der neuen Pisa-Studie veröffentlich. Und die machen so gut wie keine Aussagen zu dieser Frage. Jeder kann also spekulieren, wie er will.
Bildungsforscher Klemm jedenfalls bleibt dabei: „Natürlich spielen diese Faktoren – neben anderen – eine sehr wichtige Rolle“, sagte Klemm der taz. Er geht davon aus, dass Sachsen, Thüringen und Sachsen-Anhalt deutlich schlechter abschneiden, wenn man soziostrukturelle Daten herausrechnen würde – zum Beispiel den Anteil der Kinder mit Migrationshintergrund. Denn der habe große Auswirkung auf die Lerngruppe. „Dazu aber haben wir noch keine klare Aussage“, sagt Klemm. Die eine Tabelle, die das Pisa-Konsortium vorgelegt hat und die die Bedeutung solcher Faktoren eher gering einschätzt, sei stark erklärungsbedürftig. Das findet auch Berlins Bildungssenator Klaus Böger (SPD), der überhaupt nicht verstehen kann, warum sich bei der Bereinigung die Berliner Ergebnisse nicht verbessert haben.
Über die Gründe für das bessere Abschneiden von Sachsen-Anhalt, das trotz schwieriger Sozialstruktur und einer Jugendarbeitslosigkeit von 18,8 Prozent um knapp ein Lernjahr nach oben geschnellt ist, kann Bildungsforscher Klemm nur spekulieren. Neue Motivation durch das schlechte Abschneiden bei Pisa 2000? Übungseffekte? Die jüngsten Bildungsreformen jedenfalls können noch nicht greifen. Das sieht auch der Bildungsminister Jan-Hendrik Olbertz (CDU) so: „Ich sehe die Ursache vor allem in einem Wechsel des Lernklimas und einer allgemeinen Aufbruchstimmung.“
Eine Erklärung für Sachsen-Anhalt hat auch die Schulexpertin der GEW, Marianne Demmer, nicht. Keinesfalls sei die Bedeutung der sozioökonomischen Unterschiede in Frage gestellt. „Statistisch gesehen liegt sie bei etwa einem Viertel“, sagt Demmer. „Dennoch können einzelne Länder davon abweichen.“ Schavans Äußerungen hält Demmer deshalb schlicht für „Quatsch“. Besonders aber erbost sie, dass die extrem dünne Veröffentlichung der KMK solche Aussagen möglich macht. „Nur eine Ranking-Liste vorzulegen, ist eine Zumutung.“ SABINE AM ORDE