: Die Rechnerin
AUS TAIPEHGEORG BLUME
Joanna Lei steht vor einem Hochhausturm im Taipeher Messeviertel, wippt auf ihren leicht erhöhten Absätzen und winkt nach ihrem Fahrer. Sie trägt eine weiße Perlenkette auf blaugeblümtem Kleid unter einem rosa Jackett. Ihre Haare sind kurz geschnitten, ihre Brille randlos. Sie ist 43 Jahre alt und wirkt sehr seriös. Gerade hat sie mit den Sulzbergers, der alten Besitzerfamilie der New York Times, im Messeturm zu Abend gegessen. Sie kennt die Sulzbergers noch aus New York. Sie war damals Vizepräsidentin von Capital Cities/ABC, einem Medienkonzern, der später von Disney geschluckt wurde. Mitten im Internetboom zählte Joanna Lei zu den prominentesten Asiatinnen von New York, der Gouverneur George Pataki ernannte sie zu seiner Beraterin. Eine Traumkarriere.
Joanna Lei erzählt davon im trockenen Stil einer Finanzanalystin, während der Fahrer ihres Minivans mit Vollgas über die hell erleuchteten Boulevards der taiwanischen Hauptstadt rast. Das Abendessen hat länger als erwartet gedauert. Lei ist unruhig. Sie muss noch in ihren Wahlkreis. Sie ist jetzt nicht mehr Konzernmanagerin. Auch ihren späteren Job als Verwalterin eines milliardenschweren Asienfonds der holländischen Investmentbank ING hat sie abgelegt. Stattdessen ist sie Politikerin geworden, genauer gesagt: Parlamentsabgeordnete der größten taiwanischen Oppositionspartei, der Nationalisten, genannt Kuomintang, KMT. Eine ungleiche berufliche Herausforderung. „Meine Freunde fliegen in Privatjets“, sagt Lei. Sie fährt jetzt nur noch Minivan.
Aber Lei findet gut, dass sie jetzt „für normale Leute“ arbeite. Das ist für sie Demokratie. Deshalb will sie jetzt zu ihren Wählern in die Vorstadt. Ihr Fahrer soll Gas geben.
Dagegen will sie sich nicht in die aktuelle Wahlschlacht ihrer Partei einmischen. Mit diesem „Faustkampf“, sagt Lei, habe sie nichts zu tun. Angewidert denkt sie an die letzten Wochen, in denen sich die beiden Kandidaten für den Parteivorsitz der KMT gegenseitig mit Vorwürfen überhäuften und so dem Gesamtbild der Partei in ihren Augen Schaden zufügten. Lei ist unbarmherzig mit ihrer Kritik, sie glaubt, ihrer Partei könne das nur gut tun. Schließlich gehe es der KMT viel besser als erwartet. Im vergangenen Dezember gewann die Partei überraschend die Parlamentswahlen. Präsident Chen Shui-bian von der Demokratischen Fortschrittspartei kann deshalb nur mit einem Minderheitskabinett regieren. Heute nun wird die KMT einen neuen Vorsitzenden bekommen, vermutlich Taiwans nächster Präsident.
Lei glaubt, dass die KMT alle Chancen hat, die nächsten Präsidentschaftswahlen im Jahr 2008 zu gewinnen. Ihr Kandidat werde derjenige sein, der heute gewinnt: entweder der Taipeher Bürgermeister und Harvard-Absolvent Ma Ying-jeou, ein liberaler, weltläufiger Intellektueller. Oder der bodenständige Parlamentsvorsitzenden Wang Jin-pyng, der bisher als Außenseiter erscheint, aber aufgrund seiner taiwanischen Herkunft – Ma ist chinesischer Abstammung – möglicherweise mehr ländliche Parteimitglieder mobilisieren kann. Wer immer gewinnt, darauf kommt es für Lei nicht an. Dagegen ist für sie von historischer Bedeutung, dass die Partei zum ersten Mal in einer echten Kampfabstimmung ihren Vorsitzenden bestimmt. 400.000 von einer Million KMT-Mitgliedern, glaubt Lei, werden heute an der Wahl teilnehmen.
Bei diesen Worten quietscht ihr Minivan vor einer alten Klempnerwerkstatt im Taipeher Außenbezirk Xindien. Es ist neun Uhr abends, die Straße leer und dunkel, doch aus einem Keller dringt laute Musik. Lei hat es rechtzeitig geschafft. Die Hochzeitsgesellschaft tanzt noch. In der Katakombe eines Supermarkt herrscht Bierzeltatmosphäre. Serviert werden „Taiwan-Beer“ und Sunkist-Saft. Die Braut trägt ein lila Kleid und die Sängerin auf der Bühne gelbe Stiefel. Hinter der Sängerin, gleich einem Bühnenbild, hängen die Grußworte von Politikern. „Da ist meine Schriftrolle“, flüstert Lei. Dann tritt sie auf die Bühne und spricht ins Mikrofon: „Eine Hochzeit vereinigt nicht nur zwei Menschen. Zwei Familien haben heute ein neues Kind bekommen.“ Applaus.
Der Vater des Bräutigams, ein Geschäftsmann, führt Lei von Tisch zu Tisch. Jedes Mal wird angestoßen, die Gäste mit Schnaps, Lei mit Tee. Bei der Verabschiedung verteilt die Braut Bonbons. Lei achtet darauf, dass auch ihre Begleiter einen Bonbon nehmen, dann springt sie in ihren Minivan. Sie will noch ihre Wahlkreismanagerin besuchen, die Inhaberin einer Mülltrennungsfirma namens Master Nature. Mit ihrer Hilfe gewann sie im vergangenen Dezember 72.000 Stimmen in Xindien, 30.000 mehr als nötig um ein Mandat zu gewinnen.
Spätestens seit ihrem überzeugenden Wahlsieg zählt Joanna Lei zu den Stars der KMT. Die KMT ist eine alte Partei, die viel Geld hat. Angeblich ist sie die reichste Partei der Welt. Doch sie leidet an Korruption und einer diktatorischen Vergangenheit. Generalissimo Tschiang Kai-tschek, der nach 20 Jahren Herrschaft über ganz China den Bürgerkrieg gegen die Kommunisten verlor und 1949 nach Taiwan floh, führte die Partei von 1927 bis 1975. Tschiang war ein Diktator. Vor ihm aber war der erste KMT-Chef Sun Yat-sen der Begründer der chinesischen Republik und mithin Chinas erster Demokrat. Eine stolze Vergangenheit hat die KMT also auch. Und eine neue Zukunftschance: Dank Joanna Lei, der Finanzexpertin und unbefleckten Demokratin, der Frau, von der alle sagen, dass sie die Einzige ist, die die Korruption in der KMT in den Griff bekommen könnte.
Jeden Tag tritt Lei entweder in einer Fernseh- oder einer Radioshow auf. Ständig empfängt sie prominente Gäste im Namen von Partei und Parlament. Vor den Sulzbergers hat sie an diesem Tag den Chef der Toyota-Marke Lexus und einen Kreis indischer Geschäftsleute getroffen. Was sie solchen Leuten erzählt, ist beunruhigend. „Wir sind Geisel eines Systems, das wir ändern müssen.“ So lautet ein Satz, den Lei häufig wiederholt. Sie meint damit, dass die wirtschaftliche Innovation Taiwans Geisel einer provinziellen Politik ist, die sich gegen die Regeln der Globalisierung stemmt. Lei argumentiert wirtschaftlich. Sie war ja Managerin eines Investmentfonds, der Milliarden in China investierte, konnte mit ansehen, wie der Samen, den sie in China säte, aufging. Dabei schaute sie immer auch auf Taiwan. Taiwan ist für sie der Testmarkt für alles, was in China später erfolgreich ist. Was zugleich bedeutet, dass Taiwan nur solange erfolgreich ist, wie es an der Spitze der Entwicklung in der Region steht. Genau diese Position aber sieht Lei in Gefahr. „Heute ist in Taiwan schon jeder Zehnte arbeitslos“, sagt sie. Der Grund: Arbeitsplätze wanderten nach China ab, doch die taiwanischen Politiker steckten den Kopf in den Sand. Ihnen sei es lieber ideologische Kämpfe zu führen, für die Unabhängigkeit oder Wiedervereinigung Taiwans zu streiten, statt die dringend nötige Rundumerneuerung der Insel anzugehen.
Längst sind Leis Auffassungen in Taiwan mehrheitsfähig. Eine große Mehrheit der Inselbevölkerung will schon immer auf die formelle Unabhängigkeit verzichten und wünscht sich bessere Beziehungen zu China – aus wirtschaftlichen Gründen und um den ständigen Invasionsdrohungen aus China vorzubeugen. Doch erst heute erhört die taiwanische Politik diesen Mehrheitskonsens. Vorreiterin ist eine KMT, die mit ihrem bisherigen Vorsitzenden Lien Chan auch ihren letzten Wiedervereinigungspolitiker verliert. Gleichzeitig entsteht ein Sog in die politische Mitte, der auch die Unabhängigkeitsbefürworter in der Regierung erfasst. Sie leugnen das jedoch. Wer heute in Taipeh die Ministerbüros durchläuft, vom Minister für die Beziehungen zum Festland über den Gesundheitsminister zum Vizeaußenminister, hört nichts Neues. Ein wirtschaftliches Krisenbewusstsein hat die Regierung nicht. Stattdessen geht es ihr darum, vor Peking nicht zu kapitulieren.
Das aber ist das Neue an der Politik von Joanna Lei: Sie wehrt sich gegen die Dogmen von Regierung und Opposition und sucht ein von wirtschaftlicher Pragmatik geleitetes Verhältnis zu China. Sie war mit dabei, als der abtretende Kuomintang-Chef Lien im Frühjahr erstmals Peking besuchte und KP-Chef Hu Jintao die Hand reichte. Doch sie könnte niemals Reden wie Lien halten, der gern vom gemeinsamen Schicksal aller Chinesen spricht. Dafür ist Lei viel zu sehr Taiwanerin. Dennoch hält sie den Dialog mit Peking für sinnvoll: „Wir sind von dem Zug gesprungen, der zum Krieg führt“, zieht sie die Bilanz der Begegnung mit Hu.
Das passt zu ihrer rationalen Sicht der Dinge. Auch die Demokratie ist für Lei vernunftgeleitet. Die Leute wählen den, der ihre Interessen am besten vertritt.
Deshalb besucht sie auch an diesem Abend noch Wang Li-ling, ihre Wahlkreismanagerin. Langsam rollt der Minivan vor eine moderne Vorstadtvilla. Ein Dobermann bellt. Wangs Teenager-Kinder grüßen höflich. Dann sitzen die zwei etwa gleichaltrigen Frauen auf der Wohnzimmercouch vor einem buddhistischen Hausaltar, schwatzen und hecken Pläne aus. Ihr Gespräch wechselt übergangslos zwischen lokaler, nationaler und globaler Politik. Schließlich wendet sich Wang von ihrer Freundin ab und sagt: „Über die Demokratie auf Taiwan brauchen wir uns keine Sorgen machen, solange sie so gute Produkte wie Joanna Lei zu verkaufen hat.“ Trotz ihrer seltsamen Ausdrucksweise hat Wang recht: Taiwans Demokratie muss heute über ihre radikale Gründungsphase hinauswachsen. Lei ist wie gemacht für die Aufgabe.