: Für eine neue Stadtbaumstrategie
Die Zeitschrift „Architektur in Gebrauch“ widmet sich in ihrer neuen Ausgabe dem katastrophalen Zustand der Berliner Stadtbäume
Von Julia Hubernagel
Bäume sind Heiligtümer, das stellte Hermann Hesse spätestens bei seiner „Wanderung“ fest. Diesen Respekt genießen sie in der Stadt eher selten. Zwar regt sich angesichts von Baumfällungen öffentlicher Widerstand, doch lässt sich dieser mittels Ausgleichspflanzungen an anderer Stelle meist beruhigen. Dabei geht diese Rechnung nicht auf: Alte verwurzelte Bäume sind viel widerstandsfähiger als Jungpflanzen, die nicht selten im anspruchsvollen Stadtklima eingehen, und wandeln mehr CO2 um.
Um auf den Klimawandel zu reagieren, muss auch das Stadtgrün endlich eine größere Rolle spielen. Deswegen ist den Berliner Stadtbäumen nun die neue Ausgabe der Architektur in Gebrauch gewidmet. Das Journal wird von dem Berliner Büro für Konstruktivismus herausgegeben und dokumentiert in seinen Ausgaben normalerweise Gebäude oder Baukonstrukte. Beim Durchsehen der Architektur in Gebrauch fällt sofort auf: Der Text-Bild-Anteil ist alles andere als ausgewogen.
Untersucht wurde eine 5 Kilometer lange Strecke um den Park am Gleisdreieck, auf dem 455 Bäume wachsen. 96 dieser Bäume sind jedoch bereits abgestorben, gefällt oder geschädigt. Jedem dieser leidenden Bäume widmet Architektur in Gebrauch ein Bild; eine Art Mininachruf also. Das ist durchaus klug gemacht, denn dem ungeübten Auge fallen die Schäden gar nicht immer auf.
Der einzige Text im Heft ist ein Gespräch mit Felix Weisbrich, Leiter des Straßen- und Grünflächenamtes in Friedrichshain-Kreuzberg. Man könnte das unausgeglichen nennen, doch immerhin weiß Weisbrich, wovon er spricht. „Wenn wir weiterhin in regelmäßiger Folge solche Dürresommer haben, dann gehe ich davon aus, dass wir mittelfristig ein Drittel der 16.000 Straßenbäume im Bezirk Friedrichshain-Kreuzberg verlieren werden“, sagt er. Die Bäume von Hand zu gießen, helfe da nur bedingt. Das Problem liege im wahrsten Sinne des Wortes tiefer.
Für die in den letzten drei Jahrzehnten gepflanzten Bäume sei aus finanziellen Gründen nie eine richtige Begründung gemacht worden. Eigentlich müsse man eine Pflanzgrube anlegen, in dem der Ballen Platz hat und zudem die Wurzeln sich ausbreiten können. In dem festgefügten Berliner Boden – zwischen Leitungen und Weltkriegsschuttlagen – erreichen die Baumwurzeln schlicht gar nicht die tieferen, wasserführenden Schichten. Insbesondere um die jungen Bäume wurde sich nicht fachgerecht gekümmert, meint Weisbrich. Wegen der Hindernisse im urbanen Raum – Gehwege, Lichtraumprofil, Fassaden – müssten Bäume regelmäßig geschnitten werden, um sie so in die richtige Form zu „erziehen“.
Der Forstwissenschaftler findet für die Baumlage deutliche Worte: „Wir haben es mit einer Katastrophe zu tun.“ Die Fehlentwicklungen der Vergangenheit seien nur mit großem Aufwand zu korrigieren. Bei allen Bäumen in Friedrichshain-Kreuzberg schnell Bewässerungsmaßnahmen vorzunehmen, würde gut 100 Millionen Euro kosten. Weisbrich plädiert für eine neue, langfristige Stadtbaumstrategie, auch wenn das in der Übergangsphase weniger Bäume bedeuten würde.
Architektur in Gebrauch gewährt auch in der nun achten Ausgabe Einblicke in einen Mikrokosmos. Die vorherigen Ausgaben waren sicherlich exotischer – zuletzt wurden etwa die Ruinen des Königreichs Bagan in Myanmar untersucht – und für die architekturinteressierte Leserschaft womöglich interessanter. Auch die Fotos sind sonst naturgemäß weniger repetitiv und die Textbeiträge vielseitiger. Dennoch lohnt es sich, auch die neue Ausgabe der Architektur in Gebrauch in die Hand zu nehmen. Das schlichte Umschlagdesign zwischen Schülerzeitung und Gebrauchsanweisung lässt es vielleicht nicht vermuten, aber umweltbewusste Städter:innen dürften am Inhalt Gefallen finden.
Architektur in Gebrauch, zu erwerben für 10 Euro beim adocs Verlag, www.adocs.de, sowie in Fachbuchhandlungen
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen