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Archiv-Artikel

Im Selbstversuch zum Nullpunkt

Unendlich langsam bewegt sich das Paar durch die weiß ausgeschlagene, in alle Winkel ausgeleuchtete Bühnenbox. Ein Ort, der aus Raum und Zeit gefallen scheint. Und ob die beiden ein Paar sind, weiß man auch nicht so genau, bis deutlich wird, wie ausweglos sie aneinander kleben, wie Teilchen in einem magnetischen Feld, gesteuert von Kräften, die sie nicht kontrollieren können, die dennoch Teil ihrer selbst sind.

„White Trash“ nennen Benoît Lachambre und Isabelle Schad ihre choreografische Versuchsanordnung, die die beiden Tänzer und Choreografen zusammen mit dem Licht- und Sounddesigner Bruno Pocheron und dem Videokünstler Ben Andersen entwickelt haben.

Im Hamburger Sprechwerk bei der Sommerschule DanceKiosk Hamburg stellte ihre Arbeit in beeindruckender Konsequenz ein Lehrstück dar über die Zerlegung von Sinnlichkeit und die selektive Reizung der Wahrnehmung. Und darüber, wie deren erneute Verdichtung sinnige wie unsinnige, in jedem Fall irritierende Einsichten in Ausschnitte von sozialem Leben kreiert, unheimlich und befremdlich, wie unter dem Mikroskop betrachtet.

Am Rand türmen sich Rollen von weißem Klopapier, Teile ihrer Körper beginnen die Darsteller darin einzuwickeln. Sie umhüllt ihr Bein, er sogar den Kopf, bis ein gigantischer Turban auf seinen Schultern thront. Seltsam beschädigt sehen die beiden aus. Als sei ihr Körper eine offene Wunde, die gegen außen geschützt werden muss.

Doch je mehr man sich auch abschirmt, desto lauter werden die inneren Geräusche, der Atem, das Knistern des Papiers, das Knarzen der Stühle, auf denen sie sitzen, die verstärkt aus den Lautsprechern dringen. Und dann herrscht Totenstille, das Licht verdunkelt sich und über die Rückwand läuft ein Film, streift eine Kamera durch Räume, die an Labore oder Büroräume erinnern.

Nüchtern betrachtet reduzieren die Berlinerin Schad und der Kanadier Lachambre, zwei versierte und erfahrene Performer, ihre Inszenierung auf eine Begegnung zweier Individuen im Spannungsfeld des sozialen Mikrokosmos einer Tanzbühne. Mit dem Ziel, eine Art Nullpunkt anzupeilen, an dem ihre Absichten sich verwischen, die Erwartungen sich neu ordnen. Letztlich ist es ein Selbstversuch, mit dem der zeitgenössische Tanz seine Strategien von Kommunikation immer wieder gern erprobt, in Frage stellt und weiterentwickelt. Ihr praktizierter Reizentzug stellte die Zuschauer auf eine Geduldsprobe.

Doch irgendwann entfaltet diese Reise durch innere Denk- und Sinnesräume einen tranceartigen Sog, dem man sich kaum mehr entziehen kann.

Marga Wolff