berliner szenen: Wokes Bürschchen kontrolliert
Das Wetter schreit nach Frühjahrsputz auf dem Balkon. Als ich im Hof den mit abgestorbenen Pflanzenresten gefüllten Müllsack in die Biotonne leeren will, baut sich ein junger Mann, den ich im Haus noch nie gesehen habe, neben mir auf und sieht mir schweigend zu. Das nervt kolossal. Bin ich überempfindlich, wenn ich seinen Auftritt zwischen strenger Mutti, Blockwart und Bundesgesundheitsminister völlig indiskutabel finde? Oder geht dieses passiv aggressive stumme Stehen und Starren auch objektiv gar nicht? Der muss sich doch blöd vorkommen. Wer, denkt er eigentlich, wer er ist?
„Was ist?“, frage ich kurz und unfreundlich. Ich weiß natürlich genau, was ist: Müllkontrolle. Und endlich bequemt sich das woke Biobürschchen auch zu einer Auskunft. Es habe die Beobachtung gemacht, dass „hier Leute einfach ihre Windeln und alles Mögliche reinschmeißen“, sagt er, „nichts für ungut“, und verschwindet im Seitenflügel.
Interessiert hätte mich ja, in welcher Form er dann auf eine tatsächlich failende Klientel eingewirkt hätte, und auch, was wiederum die Windelleute ihm, der vermutlich täglich alle Tonnen auf Korrektbefüllung kontrolliert, gepfiffen hätten. Denn bei allem Nordneuköllner Gentritrubel nur hundert Meter weiter ist dieser Block, in dem ich lebe, immer noch ein bisschen Old School: Da fliegen die vollen Windeln auch mal aus dem Fenster in den Baum, oder man wird Zeuge, Schlichter oder Melder häuslicher Gewalt – das ist dann schon sehr urig-urban, aber auch nicht wirklich schön, sondern eher beängstigend.
Wir sind halt die Barbaren. Unser Block ist das gallische Dorf, das den Besatzern Widerstand leistet. Den Seitenflügel haben sie anscheinend trotzdem schon erobert. Was ich mich außerdem frage: Gehören volle Windeln nicht sowieso in den Biomüll?
Uli Hannemann
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