: Gesünder mit Big Brother?
Das offizielle Ziel der geplanten elektronischen Gesundheitskarte ist sinnvoll. Aber so wie das Projekt umgesetzt werden soll, führt es nur zu weiteren Kosten und mehr Bürokratie
Wer auch immer Anfang nächsten Jahres regiert – die Elektronische Gesundheitskarte oder „eCard“ soll ab Januar schrittweise eingeführt werden. Am Freitag begrüßte das Bundesgesundheitsministerium dies als ersten Schritt zu einer EU-weiten Gesundheitsversorgung.
Doch schon der Titel des Projektes eCard ist eine Täuschung. Es geht dabei weder vorwiegend um Gesundheit, noch handelt es sich um eine „Karte“. Es handelt sich vor allem um ein gigantisches Netzwerkprojekt.
Das offiziell formulierte Ziel ist sinnvoll: Der Informationsfluss im Gesundheitswesen soll verbessert werden, die Behandlungsqualität dadurch steigen, die Kosten sinken. Die zugrunde liegende Analyse stimmt. Tatsächlich ist die Informationsübermittlung von Arzt zu Arzt verbesserungsbedürftig, durch bessere Verfügbarkeit von Information ließen sich einige Fehler insbesondere bei der Verordnung von Medikamenten vermeiden. An sich wäre es eine Selbstverständlichkeit, dass Patienten bei jeder Arztkonsultation eine Liste aller wichtigen Diagnosen und einen kompletten Medikamentenplan vorlegen könnten. In der Realität ist das die Ausnahme, Infos und Berichte fehlen, Patienten selbst wissen über ihren eigenen Zustand nur unzureichend Bescheid.
Diese Defizite sind bekannt, da kommt die Vorstellung einer elektronischen Gesundheitskarte gerade recht. Soweit die Bürger überhaupt schon von den Planungen gehört haben, stellen sie sich eine Art verbesserte Version der bisherigen Krankenkassen-Chipkarte vor, auf der dann außer Personal- und Verwaltungsdaten auch wichtige medizinische Daten gespeichert würden. Das wäre ja auch gar keine schlechte Idee. Allerdings ist die eCard als mobiler Speicher nicht der Kern des Projektes. Stattdessen geht es um ein nach ersten Prognosen mindestens 1,5 Milliarden Euro teures Netzwerkprojekt, dessen Kernstück eine bundesweite zentrale Datenspeicherung ist. In dieser zentralen Datenbank sollen neben allen Verwaltungsdaten alle relevanten medizinischen Informationen zu jedem einzelnen Kassen- und Privatpatienten gespeichert werden. Die eCard in der Brieftasche des Patienten ermöglicht zusammen mit dem Elektronischen Arztausweis des gerade mit dem Patienten befassten Mediziners den Zugriff auf den Zentralrechner. Potenziellen Zugriff müssen aber täglich 180.000 niedergelassene Ärzte, Zahnärzte und Psychotherapeuten mitsamt den von ihnen autorisierten Arzthelferinnen sowie die Ärzte aus 2.000 Krankenhäusern und deren Pflegepersonal und 22.000 Apotheken und fast 300 Krankenkassen haben – Datensicherheit kann da niemand gewährleisten. Bisher war der Hausarzt Hüter der Krankheitsdaten, Facharzt- und Krankenhausberichte seiner Patienten. Letztere müssten sich nun daran gewöhnen, dass der Computer an der Praxisanmeldung mit einem Zentralcomputer irgendwo in Deutschland verbunden ist, der ihre Krankengeschichte bewahren soll. Die Praxis heißt dann nach dem Willen der Planer nicht mehr einfach Praxis, sondern ePraxis, das Krankenhaus eKrankenhaus, das Rezept eRezept und sie selbst vermutlich ePatient. Das Vertrauen in Arzt und Gesundheitswesen wird das kaum stärken.
Noch bedenklicher als die Frage nach dem Datenschutz ist die Frage nach dem Sinn. Es ist höchst zweifelhaft, ob das Telematikprojekt in der geplanten Form zu einer relevanten Verbesserung von Informationsfluss und Behandlungsqualität führen wird. Die wichtigste Basis für die Behandlung ist weiterhin das persönliche Gespräch und die körperliche Untersuchung. Darüber hinaus wird benötigt eine aktuelle Liste aller wichtigen Diagnosen mitsamt Operationen, Allergien, Unverträglichkeiten und unbedingt eine aktuelle Aufstellung aller als Dauermedikation und als Bedarfsmedikation in Anwendung befindlichen Medikamente mitsamt Dosierungen. Diese Infos passen auf ein Blatt Papier oder auf 5 kByte Datenspeicher. Genau diese entscheidenden Informationen aber werden im eCard-Zentralcomputer vermutlich nicht zu finden sein. Das liegt daran, dass die relevante und alltagstaugliche Information immer durch eine Auswahl entsteht. Wenn aber niemand da ist, der diese Auswahl trifft, entsteht eine Menge Datenmüll, den im Zeitdruck des Alltages niemand vollständig lesen kann. Eine Recherche in einem Wust von Daten kann man einem Wissenschaftler zumuten, der an einem bestimmten Thema arbeitet, aber nicht Ärzten/Ärztinnen, die täglich 40, 50 oder mehr Patienten behandeln müssen.
Wenn die Behandlungsqualität und der Informationsfluss besser werden sollen, dann ginge das einfacher und effektiver: Erstens Verpflichtung an die Fachärzte, jedes Quartal einen aussagekräftigen Bericht an den Hausarzt zu schicken. Zweitens Verpflichtung der Hausärzte, für jeden Patienten eine ständig aktuelle Aufstellung von Diagnosen und Medikamenten zu führen und diese zu jedem veranlassten Facharztbesuch und zu jeder Krankenhauseinweisung dem Patienten mitzugeben. Diese Zusatzaufgaben müssen natürlich honoriert werden, weil es wichtig und aufwändig ist. Die Mitgabe dieser grundlegenden Informationen kann natürlich auch digital erfolgen, z. B. auf einem USB-Stick, den der Patient von der Krankenkasse erhält und am Schlüsselbund immer bei sich trägt. Dieser USB-Stick kann dann auch gleichzeitig die eCard ersetzen, denn darauf können auch die Verwaltungsdaten stehen mitsamt Bild des Patienten und sonstiger Infos, auch ein eRezept (statt Papierrezept) ist damit möglich. Auf diese Weise gäbe es einen wirklich zielgerichteten Informationsfluss, die Datenbasis bliebe beim Hausarzt, die Kopie der Daten hat der Patient am Schlüsselbund und kann sie dort vorlegen, wo er selbst das möchte. Dies wäre datenschutzrechtlich sauberer, medizinisch besser und weitaus billiger. Das Monsternetzwerk und hunderttausende von neuen Lesegeräten für eCards würden nicht einmal gebraucht.
Wenn sich Ärzte und Patienten nicht rechtzeitig einmischen, wird das unsinnige Netzwerk kommen – weil es vor allem ein gigantisches Geschäft ist. Verdienen lässt sich viel an der Telematik im Gesundheitswesen. Im August 2005 sollen die Ausschreibungen beginnen. Hinter den Kulissen streiten sich die Krankenkassen (Kostenträger) und Kassenärztliche Vereinigung (Leistungserbringer) bereits darum, wo der Zentralcomputer stehen soll und wer welchen Zugriff auf die Daten bekommt.
Die Hardware- und Softwarehersteller stehen in den Startlöchern. Letztere würden auch dann noch gewinnen, wenn, wie bereits angedacht, die Patienten aus datenrechtlichen Gründen die Speicherung von Daten verweigern können oder ein Recht auf die Löschung von bestimmten Inhalten hätten. Spätestens dann aber wäre das Projekt aus medizinischer Sicht ein Fall für den Papierkorb.
Abschließend noch ein kurzer Blick nach Österreich: Dort läuft ein ähnliches Projekt bereits, bisher hat sich außer Kosten und Bürokratie nichts vermehrt.WILFRIED DEISS