Stadt des Überlebens

PITTSBURGH Der Gastgeber des Finanzgipfels hat ein erstaunliches Comeback geschafft

Richtig gut geht es den Pittsburghern immer, wenn die Steelers spielen

AUS PITTSBURGH ADRIENNE WOLTERSDORF

Nach Pittsburgh zu kommen bedeutet hinabzufahren in das Tal des Allegheny und des Monongahela, zweier Flüsse, die gemeinsam als träger, breiter Ohio weiterfließen. Im Dreieck, das die Gewässer umfließen, schimmert eine Stadt, die sich nicht scheute, ihren Hochhäusern die Form von Schlössern und Kathedralen zu geben. Einst herrschten hier Stahlbarone, und Kohlemagnaten predigten das Hohelied vom Wohlstand durch harte Arbeit.

Pittsburgh, der Name steht für Hammer und Amboss, für Andy Warhol, der hier aufwuchs, und für Stahldollar in den Händen der Fricks, der Mellons und der Carnegies. Schlote wurden nach Frauen benannt und hießen „Judy“, Brücken nach dem, was über sie gelangte. Auf der „Hot Metal Bridge“ rollte einst glühender Stahl, auf der einen Seite der Stadt gekocht, dann auf Schienen zum anderen Ufer transportiert, um dort geschmiedet zu werden. Pittsburgher wie Melissa Dreger, 60, erinnern sich daran, dass die Frauen, wenn sie in die Stadt zum Einkaufen fuhren, eine saubere Bluse mitnahmen, um sich vor dem Rückweg wegen der Rußflecken auf den Rüschenkragen umzuziehen.

Heute radeln umweltbewusste Studenten über die Heiße-Metall-Brücke, und junge Frauen joggen in weißen Trainingsanzügen hinauf zu anderen symbolträchtigen Türmen, wie dem der „Kathedrale des Lernens“, der das Wahrzeichen der Universität von Pittsburgh ist. Das Gedröhne der Ambosse ist längst verstummt, stattdessen zirpt hinter Glasfassaden Hightech-Equipment das Lied des Wohlstands durch Wissen.

Noch immer dampfen in Pittsburghs trendigen Restaurants Piroggen und Sauerkraut auf den Tischen. Sie erinnern daran, dass es Polen, Deutsche, Tschechen, Ukrainer und Serben waren, die die Hochöfen am Kochen hielten. Doch bestellt wird die Hausmannskost neuerdings von Studenten aus Schanghai und Bombay, die nach Pittsburgh kommen, um hier an einem der Spitzeninstitute zu lernen, wie man Organe transplantiert oder Roboter programmiert.

„Eds & Meds“

„Comeback“, das Wort hat dieser Tage Konjunktur. Die Präsidenten der Uni Pittsburgh und der Carnegie Mellon University sowie die Direktoren des großen Krankenhausverbundes nutzen die Ankunft der G-20-Staatsoberhäupter am heutigen Donnerstag, um mit Veranstaltungen kräftig die Werbetrommel zu rühren: Hier, wo der rasende Niedergang der US-Stahlindustrie verwüstete Stadtlandschaften hinterließ, erblühten nun Wissen und Können für das 21. Jahrhundert, meinen sie wenig bescheiden. Ihre flapsige Erfolgsformel heißt „Eds & Meds“ und steht für Education, also Bildung, und Medizin.

Präsident Barack Obama hat den Tagungsort im Rostgürtel der USA mit Bedacht gewählt. Im Gegensatz zu Detroit oder Cleveland kann Pittsburgh dank kluger Standortpolitik der vergangenen 20 Jahre schon heute illustrieren, was er im Sinne hat, wenn er von einer „grünen Ökonomie“ spricht.

Die Universitäten waren landesweit unter den ersten, die ihre Gebäude mit Strom aus erneuerbaren Energien betrieben. Die Krankenhäuser sind längst weltweit Spitze in der Transplantationsmedizin. Carnegie Mellon, eine der besten Privathochschulen des Landes, hat zum Gipfel ein „Kleines Angeberbuch der großen Ideen“ herausgebracht, in dem Besucher darüber informiert werden, dass es Forscher in Pittsburgh waren, die mit dem Smiley Computer-Emoticons erfanden, Roboter kreierten, die über Wasser gehen können, und das schusssichere Material Kevlar entwickelten.

„Ich habe Pittsburgh abstürzen sehen und auch wieder hochschnellen“, sagt Melissa Dreger. Sie koordiniert im Logistikbüro der Universität Pittsburgh in diesen Tagen die Shuttlebusse für die Gipfelbesucher. Die ganze Stadt wird für den Verkehr abgeriegelt. „Alles ist im Ausnahmezustand“, stöhnt sie. „Aber es ist gut, dass die Welt etwas über Pittsburgh erfährt“ findet sie.

Aufgewachsen ist sie in Aliquippa, einem Vorort von Pittsburgh, wo Familien wie ihre in Siedlungen wohnten, die „Plan 9“ oder „Plan 12“ hießen, Arbeiterviertel, die zum früheren Stahlkonzern Jones & Laughlin gehörten, bei dem auch ihre Eltern arbeiteten. Ihr Vater, ein Kind serbischer Migranten, und ihre Mutter, Tochter italienischer Einwanderer, hatten in den 60er-Jahren einmal versucht, sich in Kalifornien niederzulassen. Doch die Pittsburgher Löhne waren einfach zu gut, man kam wieder zurück und nahm den Ruß auf den Fensterscheiben in Kauf.

Ihr Vater hat es nicht verwunden, dass man ihn eines Morgens im Jahr 1982 feuerte. J&L war vom größeren Stahlwerk LTW gekauft worden. Es war der Anfang vom Ende, die Hochöfen wurden nacheinander stillgelegt. Die Firmenzentralen zogen nach Chicago, und die Walzstraßen wurden ab- und in China wiederaufgebaut.

An die folgenden Jahrzehnte erinnern sich Melissa und ihre Familie als eine Abfolge von Pleiten, Pech und Katastrophen. Die Taufe ihrer Tochter musste wegen eines Ölunfalls auf dem Ohio verschoben werden. Ihre Ausbildung zur Lehrerin beendet sie, als die Mutter die Diagnose Krebs erhält. Ihr erster Job als Grundschullehrerin, das war in der Zeit, als ihr Vater erkrankte, der Sohn kam, als die Tanten starben. Und immer wieder Arbeitslosigkeit.

Keine Entschädigung

„Als ich später, nachdem meine Eltern beide an Krebs gestorben waren, einmal über unseren Friedhof ging, fiel mir auf, dass alle in Aliquippa ungefähr im gleichen Alter gestorben waren, fast alle an Krebs“, erzählt Melissa. Entschädigungen gab es nie. „Ja, wir sind Überlebende, Pittsburgher sind Überlebende, in jeder Hinsicht“, meint sie ein wenig müde.

Alle in der Stadt haben Geschichten vom Durchkommen zu erzählen. Ihre Lebensläufe sind Stempelkarten des Wandels: zuerst Lehre im Büro des Stahlwerks, Entlassung, Umschulung zum Krankenpfleger, Jobwechsel wegen Burnout-Syndrom und Hoffen, dass vom neuen Kuchen des Wissensstandorts schon genug Brösel ankommen werden in den windschiefen Holzhäusern der ehemaligen Arbeitervororte.

Richtig gut geht es den Pittsburghern immer, wenn die Steelers spielen. Niemand in der Stadt käme auf die Idee, zu sagen, er sei kein Fan der „Stahlkocher“, des 1933 gegründeten Footballteams der Stadt. Erst im Februar holten sie zum sechsten Mal die Super Bowl, die höchste Trophäe in der Spitzenliga – öfter als jedes andere Team der USA. „Sie sind die einzige Mannschaft, die keine Cheerleader hat“, sagt Roy und lacht laut. Eine Mannschaft ohne sexy Tanzgirls, mehr müsse man nicht wissen, meint er. Das sei Pittsburgh. Hart rangehen und ein paar Drinks, mehr braucht es nicht.

Das Stadion ist übrigens nach einem weiteren Spitzenprodukt der Stadt benannt, dem Heinz Tomato Ketchup, einst erfunden von der deutschstämmigen Familie Heinz, wie das aufwendig ausgestattete Heinz-Museum in Downtown Pittsburgh erklärt. Die Tomatensoße ist eines der wenigen Produkte der Stadt, die ohne Zutun des Pentagons entwickelt wurden. Denn Pittsburgh verdankt seinen Aufstieg vor allem der Kriegsindustrie, die sich hier früher mit Stahl eindeckte. Heute finanziert das Pentagon zahlreiche Projekte im futuristischen Bioscience-Turm der Uni Pittsburgh. Egal ob es um die Nachzüchtung von Hautzellen für Brandopfer oder die Entwicklung eines Medikaments gegen den Biss von afghanischen Sandflöhen geht, das US-Verteidigungsministerium ist finanziell dabei.

Geldgeber Lockheed

Selbst im renommierten Entertainment Technology Center der Carnegie Mellon University geht es nicht nur um neueste Videotechniken für Hollywood. Hier, im kantigen Glasbau am Ufer des Monongahela, lernen 75 Studierende die Schnittmenge von Kunst und Computertechnologie für die Unterhaltungsindustrie zu nutzen. Krishna Pandravada, 24, und sein Kommilitone Michael Campbell, 26, zeigen stolz ihr neuestes Projekt: eine billige Digitalkamera, die es schafft, innerhalb weniger Minuten ein ganzes Baseballstadion voller Zuschauer zu scannen und die einzelnen Gesichter in individuelle Dateien zu trennen. Der Rüstungskonzern Lockheed Martin ist ihr Geldgeber, ein Umstand, der weder Krishna aus Bangalore noch Michael stört. Die beiden schlaksigen Computerfans träumen in ihren Projekttürmen hoch über der Stadt davon, einmal eine eigene Firma zu gründen. So wie vor ihnen schon etliche der Alumni, die heute namhafte Videospiele- und Softwarefirmen im Pittsburgher Umland betreiben.

Der wahre Pittsburgher aber, da sind sich sowohl Melissa und Roy als auch die beiden Universitätspräsidenten Jared Cohon und Mark Nordenberg im Präsentationssaal der Pitt-Uni einig, das ist jemand wie Mike Tomlin. Tomlin ist der erste afroamerikanische Trainer der Pittsburgh Steelers in 75 Jahren. Er lebt in einem Reihenhaus, schickt seine drei Söhne auf staatliche Schulen und ist bekannt dafür, dass er mehr Wert auf Genauigkeit und Kooperation legt als auf Glamour und Effekt. „Wir haben das Comeback nur geschafft, weil alle zusammengearbeitet haben. Die Stadt, die Krankenhäuser, die Unis und natürlich die Leute hier. Die können was ab“, meint Nordenberg und nickt zufrieden.