berliner szenen: Endlich werbefrei unterwegs
Erst hat es geschneit. Dann wurde es glatt. Zu gefährlich, um wie sonst mit dem Rad zur Arbeit zu kommen. Darum fahre ich öffentlich. Das habe ich seit Pandemiebeginn vor einem Jahr nicht mehr getan, und es ist eine spannende und irgendwie auch neue Erfahrung. Man erlebt ja coronabedingt aktuell eher wenig.
Wo man früher kaum in die S-Bahn kam, gibt es jetzt zum Beispiel immer ordentlich Platz und fast jede/r hat einen Vierersitz für sich – auf „meiner“ Strecke zumindest. Weil so gut wie alle Maske tragen, hat anscheinend auch die Zahl der lauten, nervenden Telefongespräche deutlich abgenommen. Ich habe also Platz und Ruhe, um ein Buch zu lesen. Die Menschen drängeln weniger und halten Abstand. Das finde ich sehr angenehm, völlig unabhängig von Corona übrigens.
Beim Umstieg in die U-Bahn eine neue Überraschung: Der Bahnhof Französische Straße ist wieder ein Geisterbahnhof. Wie vor 1990, als er noch unter Ostberliner Gebiet lag, aber von der Westberliner BVG befahren wurde. Stattdessen gibt es jetzt den schicken Umsteigebahnhof Unter den Linden. Theoretisch wusste ich das. Aber „in echt“ ist das gleich wieder ein kleines Highlight.
Richtig gut gefällt mir aber die Reklamesituation. Was für die Betreiber sicher ein wirtschaftliches Drama ist, ist für reizüberflutete Großstädter eine Atempause. Denn es gibt fast nur noch Coronawerbung: „Oma wird zuerst geimpft“, „Die Pflege krempelt die Ärmel hoch“, „Die drei Masketiere. Jeder für alle, alle für jeden“. Ein paar Plakate für Fernsehsendungen. Nur ab und an dazwischen Werbetafeln, die darauf aufmerksam machen, dass man diese buchen und fürs eigene Unternehmen darauf werben könne. Reklame in eigener Sache also. Was jahrzehntelange Konsumkritik nicht geschafft hat, Corona macht es möglich: werbefrei unterwegs. Gaby Coldewey
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