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Archiv-Artikel

Ein Kampf gegen die verordnete Schizophrenie

Zehn Jahre wurde Tanja Afflerbach mit Psychopharmaka behandelt. Nach einer falschen Ausgangsdiagnose lebte die junge Frau aus dem Siegerland, die heute Schmerzmittel gegen die Folgewirkungen jener „tödlichen Dosis“ nehmen muss, im Nebel. Jetzt klagt sie gegen den ärztlichen Kunstfehler

„Eine leere, kaputte Hülle war ich“, beschreibt Tanja Afflerbach ihren Zustand nach Monaten in der Psychiatrie. Nachdem sie vor vier Jahren die Psychopharmaka eigenständig abgesetzt hat, „bin ich wieder glücklich, weil ich ich bin“

AUS HILCHENBACHMIRIAM BUNJES

Tanja Afflerbach stehen die Haare zu Berge: Seit vier Jahren zieht unentwegt ihre Gesichtshaut nach oben – ihre Nerven simulieren Todesangst. Nur im Dunkeln entspannt sich die Haut, zumindest so, dass sie schlafen kann. Ihre Sonnenbrille setzt die 36-Jährige deshalb nur ab, um die Augen zu schließen, sie trägt auch im Haus ein fest am Kopf sitzendes Käppi.

Ein paar Zentimeter unterhalb ihres Bauchnabels steckt ein Schlauch, durch den ein kleines, kastenförmiges Gerät ununterbrochen Morphium in ihren Körper pumpt. „Ein leichter Luftzug und die Schmerzen werden unerträglich“, sagt Tanja Afflerbach und zieht die Schultern hoch, als friere sie. „Und ohne das Schmerzmittel würde ich wohl keine drei Stunden durchhalten.“

Gegen die Ärzte, die ihr durch eine jahrelange falsche Behandlung diese Schmerzen zufügten, hat sie eine Klage vor dem Landgericht Siegen eingereicht. Sie will Schmerzensgeld erstreiten und Geld dafür, dass sie ihr Studium hat abbrechen müssen und von Sozialleistungen lebt, statt Kunstlehrerin zu sein. Vor allem aber will die junge Frau aus Hilchenbach im Siegerland, die sich gelegentlich als Kunstmalerin betätigt, „Gerechtigkeit“.

Die Sonne scheint, das Panoramafenster im Fachwerkhaus zeigt den blühenden Garten ihrer Eltern nebenan. Trotz Sonne ist heute ein guter Tag für die blasse Frau. Oft kann sie vor Schmerzen nicht sitzen, fragt sich, ob sie es schafft, weiter so zu leben. Das war ihr vor 14 Jahren unvorstellbar. Mit Anfang 20 will Tanja die Welt entdecken, ist verliebt und wohnt in einer Studentenbude in Siegen. An einer Straßenkreuzung in Allenbach an einem kalten Tag im Winter 1991 ändert sich ihr Leben: Ein Auto nimmt ihr die Vorfahrt, beide Fahrzeuge prallen zusammen. Ihr Freund wird mit einer Schulterverletzung ins Krankenhaus gebracht. Sie selbst fühlt sich unverletzt, trampt nach Hilchenbach, wo sie sich mit Freunden zur Theaterprobe trifft.

Nachts im Bett jedoch rasen immer wieder die Lichter des anderen Wagens auf sie zu. Am nächsten Morgen zittert sie am ganzen Körper, ist rappelig und traurig. Ein Schleudertrauma, diagnostiziert ihr Hausarzt und überweist sie an eine Nervenärztin. Die deutet Tanjas Unruhe als beginnende Psychose. „Die Dame wollte in den Urlaub und überredete mich, vorsichtshalber ein Depotneuroleptikum zu nehmen.“ Tanja Afflerbach versucht es mit Sarkasmus. Dann aber bricht die leise Stimme. Denn mit der Spritze, die über Wochen Psychopharmaka in ihrem Körper ausschüttet, beginnt ein Albtraum. „Ich war plötzlich innerlich erstarrt“, erzählt sie. Ihre Hand zittert. „Das ist Rheuma, das habe ich jetzt auch noch gekriegt“, sagt sie und muss plötzlich lachen. „Inzwischen kann ich meine Geschichte erzählen, ohne zu heulen.“

Immer wieder bekommt Tanja Krämpfe in Gesicht und Zunge, immer häufiger panische Angstzustände. Außer sich vor Sorge geht sie in ein Marburger Krankenhaus. „Ich spürte, dass das von den Medikamenten kommt“, sagt sie und erklärt das auch den Ärzten. Die spritzen ihr ein Anti-Parkinson-Mittel gegen die Krämpfe. „Ich konnte alles um mich herum sehen und verstehen, ich konnte aber nicht antworten“, sagt Tanja mit gepresster Stimme. „Noch nie in meinem Leben habe ich solche Angst gehabt.“ Als sie am nächsten Tag mit einem Psychiater über diese Angst spricht, verordnet der zusätzlich zur immer noch wirkenden Depotspritze weitere Neuroleptika – Medikamente, die in den Stoffwechsel des Gehirns eingreifen und laut Schulpsychiatrie die einzige Möglichkeit sind, psychische Erkrankungen zu behandeln.

Wieder zu Hause stürzt sich Tanja in einen Ferienjob. Einige Wochen später geht sie wegen Magenschmerzen zu ihrem Hausarzt. „Ach, Sie haben eine Psychose“, sagt der zu ihr. „Dann können Sie sowieso nicht Lehrerin werden.“ Das sei der schlimmste Tag in ihrem Leben gewesen. In ihrem runden Gesicht zuckt es, Tanja zieht die Lippen zu einem kleinen dünnen Strich. „Ich merkte, ich habe keine Würde mehr.“ Sie schluckt Abflussreinigungsmittel.

Im Siegener Krankenhaus werden daraufhin mehr Psychopharmaka verordnet. Tanja nimmt 20 Kilo zu, kann sich nur mit Mühe bewegen, weil ihr Herz permanent rast. Sie fühlt sich stumpf und leer, bekommt täglich heftige Panikattacken. Panik, für die es keinen Grund gibt und die sie an ihrem Verstand zweifeln lässt. „Ich war wie ein Zombie und sah auch so aus“, sagt sie. Sie geht trotzdem zur Uni, schleppt sich die Treppen hoch, schafft es, sich wenigstens für ein paar Stunden am Tag zu konzentrieren. Die Kontakte zu ihren Kommilitonen reißen ab.

Weil sie immer noch glaubt, dass ihre krankhafte Angst von den Medikamenten herrührt, wendet sie sich an einen Siegener Therapeuten, der als Psychiatrie-Kritiker gilt. Sie hofft, die Medikamente kontrolliert absetzen zu können. Die Therapie wird eine Katastrophe. Der Therapeut führt täglich stundenlange psychoanalytische „Verhöre“, wie sie sagt. Als er Tanja schlägt, bricht sie zusammen, hyperventiliert. Schon im Krankenwagen bekommt sie Spritzen. Angeschnallt wird sie in die Siegener Psychiatrie eingeliefert.

Diesmal bleibt sie Monate. „Ich kann mich an die Zeit kaum erinnern“, erzählt sie. Tanja bekommt Medikamente in „tödlichen Dosen“, wie ihr heute von ihrem Gutachter, dem Psychiater Piet Westdijk, bescheinigt wird. Die knapp Zwanzigjährige kann nur noch liegen, keinen zusammenhängenden Satz sprechen oder verstehen. „Ich habe nur einzelne Worte verstanden, die keinen Sinn machten, weil ich den Satzanfang schon wieder vergessen hatte.“ Tanja senkt ihren Unterkiefer, dreht die Augen nach oben. „So war ich: eine leere, kaputte Hülle.“

Zehn Jahre lang lebt Tanja in diesem Nebel, wird zwischendurch aus der Psychiatrie entlassen, lebt ein paar Monate bei ihren Eltern, geht dann wieder in die Klinik. Dann beginnt sie selbst, ihre Medikamente zu reduzieren. „Mit jedem Tag wurde ich klarer im Kopf“, sagt sie. Ihre Ärzte überzeugen sie, auf ein anderes Medikament umzusteigen, das weniger Nebenwirkungen haben soll – sie halten immer noch an der Diagnose fest. „Die Umstellung hätte über Monate erfolgen müssen, hier machten sie das in drei Wochen“, sagt Tanja. Sie bekommt Schüttelfrost, schwitzt so stark, dass sie fast 20 Liter trinken muss. Ihr Kreislauf ist so schwach, dass sie kaum gehen kann, und schon nach Tagen stehen ihr ständig die Haare zu Berge. „Mir wurde unterstellt, ich würde simulieren“, erzählt sie.

Sie geht nach Hause, setzt das Medikament ab. „Zum Glück fand ich endlich auch einen Arzt, der mich dabei unterstützte.“ Die Nervenschmerzen in der Kopfhaut und die Lichtempfindlichkeit sind heute, vier Jahre später, immer noch da. Psychisch krank sei sie nie gewesen, sondern habe unter Medikamenten-Nebenwirkungen gelitten, schreibt ihr Gutachter. Die Medikamentenumstellung sei unter fachlichen Gesichtspunkten lebensgefährlich gewesen.

Obwohl vor kurzem mit Vera Stein eine Betroffene vor dem Europäischen Gerichtshof Recht und Schmerzensgeld bekam, seien „die Chancen vor Gericht miserabel“, sagt Matthias Seibt vom Landesverband für Psychiatrieerfahrene, der Tanjas Klage unterstützt. „Kunstfehlerprozesse sind immer kompliziert, weil Gutachten gegen Gutachten steht“, so Seibt. „Außerdem wird Psychiatrieerfahrenen oft nicht geglaubt.“ Tatsächlich halten die Siegener Psychiater im Gegengutachten an der alten Diagnose fest, obwohl Tanja, seit sie keine Psychopharmaka mehr nimmt, nie wieder psychische Probleme hatte. Als Beweis führen sie die über 20 Psychiatrieaufenthalte an und beschreiben Tanjas Panik als Symptom einer Schizophrenie.

„Auch eine erfolglose Klage ist wichtig“, meint Matthias Seibt. Denn Tanja Afflerbach sei kein Einzelfall. „Es kommt nur selten vor, dass jemand nach so einer Behandlung noch Verstand und Energie hat, um zu klagen.“

Mehr als 35.000 Menschen werden in Nordrhein-Westfalen jährlich in die Psychiatrie zwangseingewiesen. „Auf noch viel mehr wird wie damals auf Tanja mit Diagnosen und Medikamenten Zwang ausgeübt“, sagt Seibt. „Wenn eine intelligente Frau wie Tanja sich wehrt, wird dieser Zustand öffentlich.“

Tanjas neueste Druckgrafiken sind nicht einmal so groß wie eine Hand. Auf den kleinen Holzklötzen leuchten bunte Farben. „Ich bin ein visueller Mensch“, sagt Tanja, die ihre Augen mit einer Sonnenbrille schützt. „Ich habe nur zwischendurch meine Persönlichkeit verloren.“ Manchmal stellt sie in kleinen Ateliers aus, demnächst will sie in einem Jugendheim einen Malkurs geben. An einem Tag wie heute schwärmt sie von der geplanten Zelttour durch die Bretagne mit ihrer Mutter. „Ich muss nur noch ein paar Formulare für meinen Morphiumvorrat ausfüllen“, sagt sie und stöhnt: „Immer diese Bürokratie“. Heute Abend will sie auf eine Gartenparty gehen, vorausgesetzt die Schmerzen bleiben auch für den Rest des Tages erträglich. „Ich bin wieder glücklich, weil ich ich bin“, sagt sie.