Heilige Krieger in Bedrängnis

Al-Qaidas Image wackelt: In der islamischen Welt werden die Anschläge von London kontrovers diskutiert

KAIRO taz ■ In den Medien und im Internet tobt derzeit der Kampf um die Herzen und Köpfe der Muslime. „Wir können den Terror nicht stoppen. Deshalb kommt es jetzt darauf an, wie wir auf ihn reagieren“, formuliert ein muslimischer Internet-Blogger die Aufgabe der islamischen und arabischen Welt nach den Anschlägen von London.

Auf der Website des prominenten ägyptischen Predigers Amr Khaled machen sich viele User Luft: „Wir haben gedacht, die irakischen Widerstandskämpfer seien Helden“, schreibt ein Teilnehmer der Webdiskussion, „jetzt haben wir erkannt, dass es sich nur um eine Gruppe blutrünstiger Mörder handelt.“

Sind die international agierenden Erben Bin Ladens also in den Ländern, aus denen sie stammen, in die Defensive geraten? Nicht nur durch London, auch durch die immer wiederkehrenden Blutbäder an Zivilisten im Irak wackelt das Image al-Qaidas als Retter der Entrechteten in der arabischen Welt. Dafür spricht eine Studie des Washingtoner Pew Institutes, laut der Bin Ladens Popularitätsrate in den meisten muslimischen Ländern sinkt. Etwa in Marokko, wo die Zustimmung in den letzten beiden Jahren um fast die Hälfte gesunken ist: von 49 auf 26 Prozent. Im bevölkerungsreichsten islamischen Land Indonesien ging sie im gleichen Zeitraum von 58 auf 35 Prozent zurück. Nur im Nachbarland des Irak, in Jordanien, stieg sie in dieser Zeit von 55 auf 60 Prozent, während sie in Pakistan, östlich des afghanischen Krisenherdes, von 45 auf 51 Prozent stieg. Fazit: Je näher die ausländische Intervention, umso besser sind Bin Ladens Umfragewerte.

Die Diskussion zurückdrehen

Die heiligen Krieger seien politisch in die Ecke gedrängt und schlügen nun um sich, lautet eine viel diskutierte These auf arabischen Websites. „London kann als Versuch al-Qaidas betrachtet werden, sich selbst wieder der innermuslimischen Debatte mit dem aufzuzwingen, was das Netzwerk am besten kann: einem spektakulären Angriff“, schreibt ein User. „Damit soll die Diskussion wieder auf den Aspekt des Kampfes der Zivilisationen zurückgeworfen werden.“

Genau die wollen viele islamische Geistliche verhindern. Fast gebetsmühlenartig verurteilen Scheichs, Imame und islamistische Gruppen die Londoner Anschläge. Muhammad Tantawi, der Großscheich der islamischen Azhar-Universität in Kairo, eine Autorität im sunnitischen Islam, hat nicht nur die Täter von London verurteilt, sondern ausdrücklich das Argument verworfen, die Anschläge seien ein Versuch, die britischen Truppen aus dem Irak zu vertreiben: „Das ist unlogisch und kann nicht als Motiv für die Ermordung unschuldiger Zivilisten gelten.“ Tantawi wird allerdings als Sprachrohr des mit den USA verbündeten ägyptischen Regimes angesehen. Radikale Muslime hören ihm schon lange nicht mehr zu.

Etwas mehr Gewicht hat die Stimme des bekannten Al-Dschasira-Fernsehpredigers Yussuf Qaradawi, der in Fatwas schon Selbstmordanschläge in Israel gutgeheißen hatte. Die Londoner Anschläge bezeichnet er als „grausam, barbarisch und einen Akt, der den Islam schädigt“. Selbst Abu Muhammad al-Maqdisi, der einst mit dem operativen Chef al-Qaidas im Irak, Abu Mussab al-Sarkawi, in Jordanien eine Gefängniszelle teilte und als dessen ideologischer Mentor gilt, bezeichnete unlängst via Internet die Methoden des Al-Qaida-Chefs im Irak als „Tragödie“.

Londons Mitverantwortung

Auch radikale islamistische Gruppierungen, etwa die palästinensische Hamas, die libanesische Hisbollah und die ägyptischen Muslimbrüder, fühlten sich veranlasst, die Anschläge zu verurteilen, wenngleich viele von ihnen auch der britischen Politik im Irak und in Palästina eine Mitverantwortung zuschreiben. Selbst das eher schwerfällige religiöse Establishment zieht jetzt klare Linien. Auf einer Konferenz mit mehr als 180 prominenten Scheichs im jordanischen Amman wurde einen Tag vor den Anschlägen von London in einer gemeinsamen Erklärung festgestellt, dass es verboten sei, einem Muslim seinen Glauben abzusprechen und ihn als „Apostaten“, als Abtrünnigen zu bezeichnen. Ein frontaler Angriff gegen die Al-Qaida-Ideologie, die nicht nur arabische Regime, sondern auch Kritiker als Abtrünnige vom Islam und damit als legitime Ziele bezeichnet.

Als Apostaten gelten den heiligen Kriegern inzwischen immer mehr Muslime. Ein Hinweis darauf, wie sehr sie sich in Bedrängnis fühlen. TV-Scheich Qaradawi, oft als eine Art Vermittler zwischen radikalen und moderaten Islamisten gesehen, wird auf den Internetseiten der Radikalen vorgeworfen, als „Fernsehsultan“ die Mudschaheddin im Stich gelassen zu haben. Er wird mit dem für die Islamisten schlimmsten Prädikat „Ungläubiger“ versehen.

Die Frage ist, ob sich die Vertreter des globalen Dschihad von dem immer größer werdenden Kreis ihrer muslimischen Kritiker beeinflussen lassen. Der harte Kern der Al-Qaida-Ideologen wird sich in seiner Unverbesserlichen Dschihad-Logik wohl kaum überzeugen lassen, aber vielleicht doch einige Zaungäste, wie es die vier Londoner Selbstmordattentäter auch einmal gewesen sein müssen. KARIM EL-GAWHARY