: Pole werden oder nicht
Wohin will diese rasende Kamera? Ins Freie oder in den Transitraum? Analog zur unsicheren Identität seiner Hauptfiguren lässt der argentinische Regisseur Daniel Burma in seinem Film „El abrazo partido“ („Die gespaltene Umarmung“) die Bilder wirbeln
VON CRISTINA NORD
Die ersten Bilder geben das Tempo vor. Es sind Einstellungen auf einen Hinterkopf, der sich – vermutlich im Rhythmus schneller Schritte – auf und ab bewegt. Dazwischen montiert wird, was ins Blickfeld dieses Kopfes rückt: die Glasfronten in einer Ladenpassage in Buenos Aires, die Inhaber der kleinen Geschäfte, die Waren und die Kunden. Die Montage erweckt den Eindruck, die Kamera wolle den Blick der noch unbekannten Figur protokollieren. Eine Stimme aus dem Off kommentiert die Bilder; ein bisschen atemlos, ein bisschen gehetzt stellt sie diejenigen vor, die im Mikrokosmos der Passage zu Hause sind: zum Beispiel Osvaldo, den Inhaber eines Schreibwarenladens, Mitelman, der in seinem Reisebüro Geldgeschäfte tätigt, die Gebrüder Levi, die eine Schneiderei betreiben, in Wirklichkeit aber keine Brüder, sondern Cousins sind. Jeder hat Gründe, mit dem Sein und dem Schein zu spielen. Das Gesicht zum Hinterkopf sieht man erst, als die Stimme im Off ihren Namen nennt: „Ariel Makaroff“. Auch das ist es keine frontale Einstellung, sondern ein flüchtige Profilaufnahme. So schnell wie sich die Figur der Kamera zuwendet, so schnell hat sie sich weggedreht. Ariel rennt.
„El abrazo partido“ („Die gespaltene Umarmung“) von Daniel Burman bleibt der Dynamik dieser Anfangssequenz treu. Der Protagonist Ariel (Daniel Hendler), gescheiterter Architekturstudent, Sohn von Sonia, der Inhaberin des Dessous-Geschäftes in der Passage, ist ständig in Bewegung. Der Kameramann Ramiro Civita tut es ihm nach: Seine Kamera zoomt von der Halbnahen in die Nahe, zuckt, bevor sie sich für eine Kadrierung entscheidet, und hält auch dann nur eine Sekunde still. Sollten die Figuren ausnahmsweise einmal ruhig sitzen, werden ihre Dialoge durch Jump Cuts dynamisiert. So fließen zwar die Repliken, die Bilder aber springen. Und statt dass Schuss-Gegenschuss-Sequenzen Überschaubarkeit herstellten, sorgen Reißschwenks für zusätzliche Dynamik. Der Film scheint zu wirbeln, und das allein lässt sich als trotzige Behauptung begreifen. Denn Burman drehte „El abrazo partido“ 2003 in einem Argentinien, dessen Wirtschaft zwei Jahre zuvor zum Stillstand gekommen war. Der Film setzt die eigene Hektik gegen die Lähmung, den Aufbruch gegen die Starre. Nur bleibt offen, wohin die Bewegung führt: einem Ziel entgegen? Oder in einen Transitraum hinein, der keinen Ausgang kennt?
Der Aufbruch ist ein Leitmotiv in der Geschichte von Ariels Familie. Er ist Enkel polnischer Juden, die vor den Nazis nach Argentinien flohen. Um einen polnischen Pass will er ansuchen, weil er dadurch Europäer würde. Aber will er wirklich gehen? Angesichts mangelnder Perspektiven in Buenos Aires wäre das ratsam, doch Ariel verbindet mit Polen nichts – außer den hastig zusammengesuchten Daten aus dem Internet, die er im Gespräch mit dem Botschaftsangehörigen aufzählt. Lech Walesa habe ihn beeindruckt, lügt Ariel, und der Beamte korrigiert in seinem eckigen Spanisch die falsche Aussprache des polnischen Namens. Und dann noch Roman Polanski – „Sie wissen schon, der mit dem Mädchen“. Man ahnt: Ariels Ruhelosigkeit führt nicht notwendig zu einem Aufbruch, eher entsteht sie, weil er einer Entscheidung ausweicht. Im Wirbel seiner unablässigen Bewegungen kann er alles so belassen, wie es ist.
Pole werden oder nicht: Das ist die eine Frage, die die Fliehkräfte von „El abrazo partido“ bindet. Die andere, wichtigere ist die nach dem Vater. Wer ist dieser Mann namens Elías? Warum ist er abwesend? Und warum überhaupt soll sich Ariel mit ihm befassen? Elías (Jorge d’Elia) hat Buenos Aires 1973 verlassen, um in Israel Soldat zu werden. Da war Ariel gerade geboren. Was er von seinem Vater kennt, ist so flüchtig wie ein Phantom: In einem Home-Movie, das Ariels Beschneidung wiedergibt, huscht Elías einmal von rechts nach links durch den Bildvordergrund. Nach zwei Dritteln des Films steht dieser Mann dann plötzlich auf der Straße und bildet einen der drei Pfeiler in einem Dreieck, dessen andere Pfeiler Ariel und dessen Bruder Joseph sind. Wie schon in der Eingangssequenz schmiegt sich die Kamera an die Blicke der Figuren, ahmt deren Suchen nach, um nach kurzem Zucken stillzustehen, sobald der Blick sein Ziel gefunden hat.
Das Schöne an „El abrazo partido“ ist, dass diese agile, nervöse, von Hand geführte Kamera niemals als Störfaktor, sondern als etwas dem Film Wesentliches erscheint. Ihr Flirren geht eine überzeugende Verbindung mit den Dialogen, den Erinnerungen und den Schrullen und Anekdoten der Figuren ein. Burman wählt hierfür bisweilen brutale Pointen – etwa in der Anekdote vom polnischen Rabbi, der den Kalender verliert und daher den Tag des Sabbats nicht mehr bestimmen kann. Die Geschichte ginge glücklich aus, intervenierte nicht an ihrem Ende Ariels Bruder: „Und dann kamen die Nazis und brachten sie alle um.“ Eine andere Geschichte erzählt Ariel: Wäre er bei seiner Freundin Estela geblieben, dann wäre es ihm so vorgekommen, als wären die kommenden 50 Jahre genauso geworden, wie die vergangenen zehn waren. Er wäre er in einen Tunnel eingetreten, der nur ein Ziel gekannt hätte: den Tod. Inzwischen weiß Ariel, dass es auch ohne die Freundin so sein wird: „Jetzt sterbe ich genauso, nur dass Estela mir den Kopf nicht mehr kratzt.“
Aber gegen diesen Tunnel setzt er seine Bewegung, und Burman setzt dagegen die Vitalität seines Films.
„El abrazo partido“. Regie: Daniel Burman. Mit Daniel Hendler, Adriana Aizemberg u. a. Argentinien 2004, 100 Min.