: „Ich bin genetisch optimistisch“
Alfred Grosser über die Unlösbarkeit des Nahostkonflikts, den Streit über die „Auschwitzkeule“ und kollektive Erinnerung
■ 84, emigrierte 1933 mit seinen Eltern nach Frankreich und wurde 1937 französischer Staatsbürger. Als Soziologe und Politikwissenschaftler lehrte er bis zu seiner Emeritierung am Institut für Politikwissenschaft in Paris und veröffentlichte zahlreiche Bücher über die deutsch-französischen Beziehungen. Für seinen Beitrag zur Völkerverständigung erhielt er den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels. Für seine Verdienste um die Vielfalt des Judentums wurde er 2004 mit dem Abraham-Geiger-Preis gewürdigt. Gerade erschienen: „Von Auschwitz nach Jerusalem“ (Rowohlt).
INTERVIEW MORITZ REININGHAUS
taz: Herr Grosser, der Titel Ihres Buches „Von Auschwitz nach Jerusalem“ spricht jenen Zusammenhang zwischen Holocaust und der Existenz Israels an, den Sie vehement abstreiten. Wie kommen Sie dazu, diesen weithin akzeptierten Umstand abzulehnen?
Alfred Grosser: Bei Gründung des Staates Israel war von Auschwitz noch wenig die Rede. Erst seit dem Eichmann-Prozess wurde Auschwitz zum zentralen Thema in Jerusalem, und bei den „Reparationsverhandlungen“ von Adenauer durfte Israel noch nicht für alle Juden sprechen. Heute heißt es: Wir sind die Opfer oder die Erben der Opfer und vor diesen haben sich in Jad Vaschem alle zu verneigen. Dazu gehört aber auch die Frage: Wer muss heute für Auschwitz Opfer bringen? Da kommt die arabische Antwort: Warum sollen wir dafür geradestehen, dass in Europa Grausamkeiten begangen worden sind? Darauf hat Israel nie eine Antwort gefunden. Deshalb sind wir heute auch so weit, dass es keine Zwei-Staaten-Lösung mehr geben kann.
Die gilt jedoch als einzige realistische Lösung des Nahostkonflikts?
Aber sie ist doch schon lange nicht mehr möglich! Durch die jüdischen Siedlungen entstand ein Flickenteppich, auf dem es keine territoriale Einheit geben kann. Im Zuge der gegenwärtigen Politik werden gegen alle Versprechungen der israelischen Regierung immer mehr Siedlungen gebaut. Also tut man so, als gebe es dort keine Araber, ganz nach der Losung von 1948 „Ein Volk ohne Land für ein Land ohne Volk“.
Warum gibt es kein Interesse, den Nahostkonflikt zu lösen?
Ist er denn lösbar? Ich denke, nicht! Ich bin genetisch optimistisch und intellektuell pessimistisch, aber hier versagen meine Gene. Ich sehe nur eine Lösung: Israel muss aufhören, ein jüdischer Staat zu sein, und ein weltlicher Staat werden, in dem alle Bürger gleich sind und dieselben Rechte haben. Natürlich müssen alle Juden freien Zugang zu diesem Land haben.
Welche Rolle spielt Deutschland im Nahostkonflikt?
Ich kann nicht beurteilen, was hinter den Kulissen geschieht, aber ich erkenne einen enormen Unterschied zwischen der Bundesrepublik und Frankreich. Als Bundespräsident Horst Köhler im Februar 2005 vor der Knesset sprach und er sagte, das Erbe des Nationalsozialismus sei, dass die Deutschen überall und zu jeder Zeit für die Menschenrechte eintreten sollten, hatte ich die Hoffnung, dass auch die Palästinenser Menschen sind. Aber dann war nur noch vom „Terror der Hamas“ die Rede. Und dann kam die Kanzlerin – und es war furchtbar: Sie fand kein einziges Wort für die Palästinenser, nur „Terror, Terror, Terror“. François Mitterrand dagegen war der Erste, der vor der Knesset für die Rechte der Palästinenser eingetreten ist, und zu meiner Überraschung hat Nicolas Sarkozy 2008 in Jerusalem noch härter gesprochen. Nach vielen Komplimenten und Bezeugungen der Verbundenheit sprach er an, dass man eventuell Gebiete austauschen muss. Grundlage hierfür waren die Grenzen von 1967, was für Israel natürlich erhebliche Einschnitte bedeuten würde.
Wie ist das mit dem „Terror“? Sie weisen darauf hin, dass auch die israelische Widerstandsbewegung, die Hagana, als Terrororganisation begonnen hat.
Saul Friedländer sprach in seiner Friedenspreisrede nur vom Leiden der Seinen. Sein Laudator Wolfgang Frühwald hingegen erklärte, dass sich Friedländer rückbekehrt hat, vom Katholizismus zum Judentum. So wurde aus Paulus Saulus. Friedländer war aber auch Mitglied der terroristischen Bewegung in Israel – heute gehört er zu „Peace Now“. Es wäre interessant gewesen, wie man vom einen zum anderen kommt. Was mich heute stört, ist die Ungleichbehandlung. In Berlin wurde ein Sderot-Platz eingeweiht – mit Reden, die in meinen Augen skandalös waren. Und ich frage seitdem: Wo ist der Gaza-Platz? Wie kann man die Raketen der Hamas und die geplante Zermalmung von Häusern durch Panzer, Flugzeuge und tausenden Bomben miteinander vergleichen?
In der Vergangenheit haben Sie sich erfolgreich um die deutsch-französischen Beziehungen verdient gemacht, jetzt bemühen Sie sich um das palästinensisch-israelische Verhältnis. Welche Erfahrungen können Sie einbringen?
Ich bin oft gefragt worden: Wie habt ihr es gemacht? Was können wir tun? Im Fall Israel/Palästina weiß ich es nicht, ich habe kein Rezept. Eine vorsichtige Antwort hat Daniel Barenboim. Sein Konzert in Ramallah war wunderbar, auch wenn es dem Orchester derzeit sehr schlecht geht. Seit dem Gaza-Krieg sind die Spannungen so groß, dass es vielleicht auseinanderbricht, aber der Versuch ist richtig. Mich kümmert dabei vor allem der deutsche Beitrag im Nahostkonflikt. Deshalb habe ich auch sehr die Entscheidung des Börsenvereins kritisiert, Barenboim nicht den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels zu verleihen. Claudio Magris ist ein guter Germanist. Was er jedoch mit Frieden zu tun hat, weiß ich nicht. Man ist ausgewichen, denn bei Barenboim als Preisträger hätte es einen großen Aufschrei gegeben. Schon ihn zu loben, gilt in Deutschland als antisemitische Aussage.
Wird der Antisemitismusvorwurf in Deutschland zu leichtfertig gebraucht?
Bereits der einfache Vergleich zwischen Antisemitismus und Islamophobie hat meinen Freund Wolfgang Benz vor große Schwierigkeiten gestellt. Selbst das galt als antisemitisch, was vollkommen an der Wirklichkeit vorbeigeht. Man muss auch die Muslime in Frankreich und Deutschland mit einbeziehen. Denn sie sind heute die Diskriminierten. Während jemand in Frankreich und Deutschland nicht mehr diskriminiert wird, weil er Jude ist, werden Tausende diskriminiert, weil sie Muslime sind.
Ein zentrales Thema Ihres Buches ist die „Unvergleichbarkeit“ von Auschwitz, die Sie ablehnen.
„Unvergleichbarkeit“ ist für mich in jedem Fall ein Wort, das idiotisch ist – so etwas gibt es nicht. Außer man sagt theologisch, Auschwitz ist einmalig. Aber wenn man nicht vergleicht, kann man es nicht beweisen.
Sie scheuen nicht den Vergleich des „Dritten Reichs“ mit anderen totalitären Regimes?
Ich finde, dass Mao schlimmer war. Man macht immer den Vergleich Hitler und Stalin, aber meiner Meinung nach muss man Mao da mit einbeziehen – er hat am meisten getötet, nur eben sein eigenes Volk, und das auch noch außerhalb Europas, deswegen kümmert es keinen.
Sie schrecken nicht davor zurück, den Begriff „Auschwitzkeule“ zu verwenden?
Martin Walser hat das vor mir gemacht – und zwar richtig. Jedes Mal, wenn ein Deutscher sagt: „Die israelische Politik ist falsch“, heißt es: „Denk an Auschwitz!“
Sie lehnen die Kollektivschuldthese kategorisch ab?
Die Titelseite des Spiegels von Ende August mit dem Titel „Der Krieg der Deutschen – 1939: Als ein Volk die Welt überfiel“ ist ein Kollektivschuldbekenntnis, wie es noch nicht einmal in Nürnberg gemacht worden ist. Ich glaube, dass sich dies bei den Deutschen in den letzten Jahren verstärkt hat. Man vergisst immer, dass die Menschen in Deutschland den Krieg nicht wollten. Das zeigen die Gestapo-Berichte zur Stimmung der Bevölkerung.
ALFRED GROSSER
Auch das Modell der „kollektiven Erinnerung“ greifen Sie an.
Es gibt keine kollektive Erinnerung, kein kollektives Gedächtnis. Wer 1945 noch nicht geboren war, kann sich nicht daran erinnern. Was er von damals weiß, wurde ihm vermittelt. Und das heißt: Es hätte auch anders übermittelt werden können. Es hängt also von Geschichtsbüchern, Elternhäusern und Medien ab. Deshalb versuche ich gegen das Bild anzukämpfen, das die Deutschen von sich haben.
Steckt hinter dieser Ablehnung nicht auch Ihre Skepsis gegenüber Gemeinschaftlichkeit?
Das kann sein. Jedes Mal, wenn jemand glaubt, er hat nur eine Zugehörigkeit, wird er undifferenziert und intolerant. Deswegen betone ich immer, dass mein Vater Professor an der Universität, Kinderarzt, Klinikleiter, Freimaurer und neben vielem anderen eben auch Jude war. Hitler hat gesagt: „Du bist nur Jude.“ Warum soll ich mich von Hitler definieren lassen? Warum war man gegen Hitler? Ich war nicht gegen Hitler – Hitler war gegen mich. Ich hatte gar keine Wahl. Fritz Erler hatte die Wahl, Wilhelm Leuschner hatte sie. Die waren nicht wegen des gegen sie gerichteten Antisemitismus gegen Hitler, sondern weil er Menschen verachtete. Also muss man überall gegen Menschenverachtung, Rassendiskriminierung und Überheblichkeit sein. Das wäre die richtige Konsequenz aus dem Satz: „Wir verurteilen Hitler in der Vergangenheit.“
Positiv ausgedrückt lassen Sie sich von keiner Seite vereinnahmen. Negativ gesagt, stellen Sie sich auch nicht bedingungslos hinter jemanden.
Außer im Krieg. Im Zweiten Weltkrieg war ich gegen Hitler, im Algerienkrieg war ich gegen die Generäle. Bis zum Kriegsende ist man auf einer Seite, danach nicht mehr. Deshalb begann ich nach 1945, zur Verständigung zwischen Deutschen und Franzosen beizutragen. Da musste ich mich an das Prinzip halten, dass es keine Kollektivschuld gibt, und es war mir egal, wer von Auschwitz wusste, auch wenn das natürlich zur Verantwortung auf deutscher Seite beitrug.
Sie bezeichnen sich als „atheistischen Humanisten“. Was beinhaltet dieses Weltbild?
Dass es Menschen gibt. Das ist das zentrale Problem für Israel, denn es gibt dort viele Atheisten. Wie können die sich auf die Bibel beziehen, an die sie nicht glauben? Die biblischen Schilderungen gelten heute noch als Begründung dafür, warum Juden Anspruch auf Palästina erheben.In Ihrem Buch sprechen Sie vom „Fortschritt der warmen Vernunft“. Wie sieht der aus?
Vernunft allein genügt nicht, aber ohne Vernunft geht es nicht. Man muss den Anderen im Rahmen seiner eigenen Prinzipien anerkennen. Das Judentum beruht auf Universalismus. Doch der droht zu verschwinden. Sonst müsste man die Araber ja als ebenbürtig anerkennen.
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