: Feindbild Kunst
BUCH Der Autor Lars Henrik Gass denkt das Kino dialektisch und hat einen dogmatischen Filmbegriff
Für Lars Henrik Gass ist es mit dem Kino vorbei, darum lautet der Titel seines Buchs „Film und Kunst nach dem Kino“. Das Kino, mit dem es vorbei ist, war für ihn der Ort, der „mir im Dunkeln eine unzugängliche Welt aus Licht und Schatten vorstellte. Die Möglichkeit einer alternativen Wirklichkeit, das war das Stück Anarchismus im Kapitalismus, der unglaubliche Affront des Kinos gegenüber der Warenwelt, deren Teil es war.“ Dieser Begriff vom Kino ist philosophisch gemeint und kommt, das merkt man den Formulierungen und der verbissenen Grundhaltung an, auf dem Umweg über die Filmwissenschaftlerin Heide Schlüpmann von der Kritischen Theorie her.
Der Begriff, den sich Lars Henrik Gass vom Kino macht, ist so dialektisch gedacht, dass man es schon pervers finden kann. Das Kino nämlich ist – vielmehr war – für ihn ein Ort einzigartiger Freiheit, gerade weil die Erfahrung des Kinos der Zuschauerin keine Wahl lässt. Mit aufgerissenen Augen sitzt der Zuschauer vor der Leinwand und genießt die Freiheit, zu der das Lichtspiel im Dunkeln ihn zwingt. Das Kino denkt die Welt, da ist Gass bei Deleuze, in der Dauer seiner Einstellungen auf ganz eigene Weise, und die Zuschauerin setzt sich zur Welt, die das Kino denkt, zunächst keineswegs per Reflexion ins Verhältnis. Die Freiheit der primären Kinoerfahrung liegt vielmehr darin, dass es das Kino ist, das einen denkt. Selber denken kommt später.
Tief melancholisch
Der Gass’sche Begriff vom Kino ist nicht empirisch, sondern dogmatisch. Wer das Kino anders versteht als Gass, hat für ihn einen falschen Begriff. Sehr unklar bleibt auch, wie sich einzelne Filme zum Kino als Ganzes verhalten. Durchaus kurios ist es, dass die Filme, mit denen sich der Autor in diesem Band genauer befasst, oft gerade Grenzfälle sind: Andy Warhols „Empire“ etwa, in dem, wie Gass einräumt, die typische Erfahrung der alternativen Wahrnehmung durch äußerste Dehnung der Dauer auf die Probe gestellt wird. Dieser Widerspruch klärt sich nicht, oder vielleicht nur biografisch: Lars Henrik Gass leitet seit Jahren das Kurzfilmfestival Oberhausen, das entschieden dem experimentellen Film zugeneigt ist.
Nun aber „Film und Kunst nach dem Kino“. Dieses „nach“ ist tief melancholisch. Seit der Film das Dunkel des Kinos verließ oder – auch nicht besser – im Multiplex zum Unterhaltungsradau wurde, bleibt der Zuschauerin nach Ansicht von Gass nur mehr das Äquivalent des „Gefällt mir“-Buttons bei Facebook; Freiheiten gibt es in der Welt der Fernbedienung, des Fernsehens, der DVD und des Video on Demand nur zum konsumistischen Schein. Der Ort, an dem die wahre gegen die falsche Freiheit gesetzt wird, muss das Festival sein, denn hier wird im Idealfall „die Passivität des Kinobesuchs unterlaufen, nicht durch Mitmachen, falsche Partizipation, Event und Nostalgie, roten Teppich und Popcorn, sondern durch eine Transformation von Kino, die heute fast utopisch wirken muss und damit auch etwas anachronistisch.“ Als Negativbild wird hier nicht zuletzt die Berlinale gemeint sein. Dagegen stellt Gass „die soziale Energetisierung des Kinos durch den Diskurs, die Begegnung, selbst die gemeinsame Produktion“. Das ist in zustimmungsfähiger Allgemeinheit schön formuliert; wie es in der Praxis dann aussieht, muss wohl die Probe aufs Exempel in Oberhausen erweisen.
Das instruktivste Kapitel gilt einem anderen Gegner: der Kunst. Diese hat sich des Films in den letzten Jahrzehnten bemächtigt und führt nicht nur Videos, sondern auch Avantgardefilme in ihren Räumen vor, wie es ihr passt. Im heute allgegenwärtigen Loop, argumentiert Gass, wird der Film dem verfügenden Blick des Ausstellungsbesuchers zugänglich gemacht: „Der Loop inkorporiert den durch den Kunstbetrieb geleiteten Zuschauer als ästhetisches Verfahren.“ Dass das per se ein Problem ist, setzt Gass mit seinem Kinobegriff einfach voraus. Dennoch sind die Unterscheidungen, die er zwischen dem Funktionieren von Film und Kunst trifft, immer wieder lehrreich. Nach dem Kino ist der Film für Gass nicht notwendig am Ende. Dass die Kunst ihn zu schlucken versucht, ist für ihn aber alles andere als ein Zeichen der Hoffnung. EKKEHARD KNÖRER
■ Lars Henrik Gass: „Film und Kunst nach dem Kino“. Philo Fine Arts/Fundus 2012, 136 S., 10 Euro