: Operation Supersenior
AUS TOKIO SVEN HANSEN
Shinji Yamasaki strotzt vor Zuversicht. Denn die Zeit, das weiß der Chef der Werbeagentur Senior Communication, arbeitet für ihn. Der dynamische Manager trägt die unter Tokios Jugendlichen gerade populäre längere Strähnenfrisur, und sein Büro liegt im trendigen Twenviertel Shibuja. Doch einzelne graue Haare zeigen, dass Yamasaki längst jenseits der 30 sein muss. Seit fünf Jahren konzentriert er sich nun auf über 50-Jährige. Yamasaki erzählt mit leuchtenden Augen vom Potenzial seiner auf den Seniorenmarkt spezialisierten Agentur: „Die Zahl der über 50-Jährigen wird in Japan in zwanzig Jahren 59 Millionen betragen, das werden 48 Prozent der Bevölkerung sein, also jeder zweite Japaner.“
Schlagen Sozialwissenschaftler, Ökonomen, Arbeitsmarkt- und Rentenexperten angesichts der raschen Alterung der japanischen Bevölkerung Alarm, sieht Yamasaki in der „Silbermarkt“ genannten älteren Bevölkerung seine Chance. Bisher habe sich Marketing an vierköpfigen Familien orientiert, die gebe es jedoch immer seltener. „Beim Wort ‚Seniorenmarkt‘ denken viele an einen grauen Markt, aber Menschen zwischen 50 und 70 sind attraktive und wohlhabende Konsumenten. Bei uns in Japan besitzen ältere Menschen drei Viertel der Vermögen.“
Yamasaki verweist darauf, dass ab 2007, also schon in zwei Jahren, die in Japan besonders geburtenstarken Jahrgänge 1947 bis 1949 in Rente gehen. Das sind acht Millionen Menschen, die trotz der letzten Rentenreform noch verhältnismäßig hohe Pensionen erhalten werden. „Diese Babyboomer hörten früher die Beatles, trugen Jeans und Minirock. Ihre Kinder sind längst aus dem Haus. Diese Generation hat mehr Geld und Zeit als heutige junge Leute. Und anders als frühere Generationen wollen sie nicht so viel vererben. Sie nutzen ihr Geld lieber für den Konsum.“
In Japan können es sich immer weniger Firmen leisten, den wachsenden Seniorenmarkt und die Bedürfnisse älterer Menschen zu vernachlässigen. So betreibt etwa der Elektronikkonzern Matsushita bei Osaka ein Altersheim, in dem er für Senioren entwickelte Produkte testet. Diese dürften aber auf keinen Fall Seniorenprodukte genannt werden, erklärt Yamasaki. „Fragen wir Senioren, wer Senior sei, geben sie immer ein höheres Alter als das eigene an.“ Ein für alte Golfspieler entwickelter Schläger zum Beispiel habe sich mit dem Slogan „Auf diesen Schläger haben Senioren lange gewartet“ nicht gut verkauft. Das habe sich erst geändert, als die Botschaft lautete: „Mit diesem Schläger brauchen sie weniger Kraft.“
In Japan gibt es immer mehr so genannte Supersenioren, die noch als Achtzigjährige Weltreisen machen oder, wie Yuichiro Miura mit 72 als bisher ältester Mensch 2003, den Mount Everest erklimmen. Japans Senioren sind bis zum Alter von 75 Jahren bei relativ guter Gesundheit und damit weltweit am fittesten. Selbst von den inzwischen 23.000 über Hundertjährigen leben noch 35 Prozent unabhängig von fremder Hilfe. Dennoch wächst natürlich auch in Japan der Anteil Pflegebedürftiger rapide und damit der Bedarf an Pflegeeinrichtungen und -personal. Eine staatliche Pflegeversicherung gibt es erst seit 2000.
Die Einstellung der Gesellschaft hinke inzwischen den Bedürfnissen der Alten hinterher, meint Nobumasa Ohmori. Er leitet das Sakuragawa-Kurzzeitpflegeheim. „Unserer Klienten wollen zu Hause sterben. Sie kommen zur Rehabilitation zu uns oder weil pflegende ältere Familienangehörige selbst ins Krankenhaus müssen“, berichtet Ohmori. Das Durchschnittsalter der Gäste betrage 85 Jahre, die durchschnittliche Verweildauer 45 Tage. 95 Prozent würden wieder nach Hause entlassen. „Meine Firma hat in den letzten zehn Jahren drei solcher Heime gebaut, zwei weitere sind geplant. Die Nachfrage ist groß.“ In den letzten Jahren wurden in Japan 700.000 Pflegeplätze eingerichtet.
Für die 100 Betten gibt es im vorbildlichen Sakuragawa-Heim 100 Pflegepersonen – fast ausschließlich Japaner. Laut Ohmori ist das Ansehen der Pflegeberufe in Japan höher als in westlichen Ländern; umgekehrt sei dagegen die Abneigung gegen ausländisches Pflegepersonal größer. Er selbst, der schon in Kambodscha gearbeitet hat, würde es gern sehen, wenn die Regierung – wie vom Industrieverband Keidanren gefordert – philippinische oder thailändische Pflegekräfte zulassen würde, um den wachsenden Bedarf zu decken. Doch die Akzeptanz von ausländischem Pflegepersonal würde den überwiegend konservativen Rentnern, die auf traditionelle demutsvolle Höflichkeitsformen Wert legen, schwer fallen.
Japans Gesellschaft überaltert auch deshalb so schnell, weil es so gut wie keine Einwanderung gibt. 2004 gewährte Japan nur 15 Flüchtlingen Asyl. Die Ausländerquote beträgt 1,8 Prozent. Größte Ausländergruppen sind Koreaner und Chinesen, die meist seit Jahrzehnten in Japan leben, sowie die Nachkommen einst nach Südamerika ausgewanderter Japaner. Politiker trauen sich an das Thema Einwanderung nicht heran. Ein UN-Bericht stellte 2000 fest, dass Japan zur Stabilisierung seiner Bevölkerung auf dem Niveau von 2005 bis 2050 17 Millionen Zuwanderer brauchte, was 381.000 Menschen pro Jahr entspräche. Um die Erwerbsbevölkerung auf dem Niveau von 1995 zu halten, wären 33,5 Millionen Migranten nötig – 609.000 im Jahr. Bei der derzeitigen Zuwanderungspolitik völlig illusorisch.
Stattdessen will die Regierung die Geburtenrate erhöhen und die Vereinbarkeit von Kindern und Beruf verbessern. Maßnahmen wie längere Öffnungszeiten für Kindergärten in den Abendstunden oder die Einführung eines Erziehungsurlaubes auch für Väter blieben bislang aber ohne Wirkung. Die klassische Rollenverteilung – Männer arbeiten bis spätabends, Frauen widmen sich Haushalt und Kindern – ist für Frauen immer unattraktiver geworden. Den Wandel im Geschlechterverhältnis begünstigt zudem die seit den 90er-Jahren anhaltende Wirtschaftskrise. Seitdem wurde die Zahl der festen, einst bis zum Rentenalter garantierten Arbeitsplätze abgebaut und die Zahl ungeschützter Jobs und Teilzeitstellen erhöht. Diese bekamen vor allem Frauen. Ihr Anteil an der Arbeitsbevölkerung stieg, sie sind heute wirtschaftlich unabhängiger, heiraten später und bekommen weniger Kinder.
Dazu trägt auch eine weitere Krise zwischen Männern und Frauen bei. Bei einer Umfrage des Gesundheitsministeriums von 2004 gab ein Drittel der Paare an, seit einem Monat keinen Sex mehr gehabt zu haben. 19 Prozent hatten seit einem Jahr keinen Geschlechtsverkehr. Und laut einer Umfrage der Zeitung Yomiuri vom Februar gaben sieben von zehn Frauen an, ganz ohne Männer glücklich sein zu können.
Die bald auf dem Kopf stehende Bevölkerungspyramide stellt das Rentenversicherungssystem vor kaum lösbare Probleme. Dabei hat die Regierung schon die schrittweise Anhebung des Renteneintrittsalters von 60 auf 65 Jahre beschlossen, Neurentnern die Pensionen gekürzt und schon zugesagte Anpassungen abgesagt.
„Diese Kürzungen wären in Deutschland undenkbar,“ meint Harald Conrad, der beim Deutschen Institut für Japan-Studien in Tokio die Überalterung erforscht. „Dabei sind in Japan die Renten niedriger als in Deutschland. Und schon heute arbeiten über 60 Prozent der 65-Jährigen.“ Inzwischen gibt es private Arbeitsagenturen, die speziell Senioren vermitteln.
Der Trend ist klar: Weniger Rente, länger arbeiten. Letzteres ist angesichts der japanischen Arbeitsethik weniger umstritten als in Deutschland. Doch um die Lohnkosten nicht steigen zu lassen, muss Japans auf dem Senioritätsprinzip beruhendes Lohnsystem auf das Leistungsprinzip umgestellt werden. Und das Bildungssystem muss so reformiert werden, dass auch Senioren immer wieder auf den neuesten Wissensstand gebracht werden.
Wegen des schrumpfenden Arbeitskräftereservoirs investiert die Industrie inzwischen in die Entwicklung von Robotern. Dabei wird in dem technikverliebten Land auch an ältere Menschen gedacht und etwa mit Fütterrobotern experimentiert. „Hier werden Pflegeroboter viel unideologischer gesehen als in Deutschland“, berichtet Conrad. Bei der Expo in Aichi ist ein als Seehundbaby gestylter Roboter zu sehen, der schon in Pflegeheimen eingesetzt wird. Der sich sensibel auf individuelle Menschen einstellende, 3.000 Euro teure Roboter wird nach Angaben seines Erbauers Takanori Shibata als Haustierersatz akzeptiert und sorgt für Freude im Alltag. Künftige Robotergenerationen sollen nicht nur das, sondern auch Alte an die Einnahme ihrer Medizin erinnern, Blutdruck messen und Alarm schlagen, wenn die zu pflegende Person nicht wie gewünscht reagiert.
„Jahrelang wurde der Alterungsprozess hier vornehmlich negativ diskutiert“, erinnert sich Conrad. „Aber jetzt treten auch die sich aus der Alterung ergebenden Chancen ins Blickfeld.“ Werbechef Yamasaki zumindest hat diese Chancen erkannt.