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Archiv-Artikel

Zu wenig, zu spät

Eine halbe Million Euro gibt Berlin, um dem Niger in der größten Hungersnot seit Jahren zu helfen

VON DOMINIC JOHNSON

Eine Hungerkatastrophe, wie sie heute auf der Welt eigentlich nicht mehr vorkommen dürfte – das befürchten höchste UN-Verantwortliche für den Sahelstaat Niger. „Kinder sterben, während wir sprechen“, schimpfte der UN-Chefkoordinator für humanitäre Hilfe, Jan Egeland, am Dienstag in New York. 2,5 Millionen der 11,5 Millionen Einwohner Nigers bräuchten Nahrungsmittelhilfe. 150.000 Kinder seien unmittelbar vom Hungertod bedroht. Mit wenigen Millionen Dollar zur rechten Zeit hätte das verhindert werden können. Aber das Geld sei nicht gekommen. „Nirgends auf der Welt ist die Kluft zwischen unseren Möglichkeiten und der Zahl der bedrohten Leben heute so groß wie in Niger.“

Die Sahelzone erlebte 2004 eine Serie von Naturkatastrophen. Erst kamen Heuschrecken und fraßen die Weideflächen der Sahel-Nomaden, dann folgte Dürre. Die Lebensmittelpreise schossen in die Höhe. Für die Landbevölkerung in Mali, Burkina Faso, Niger und Tschad brachen schwere Zeiten an – vor allem im Niger, ärmstes Land der Region und Transitland für Migranten Richtung Europa. Jetzt ist die Situation dramatisch wie seit 20 Jahren nicht mehr.

Schon im November 2004 warnten Experten vor einer Hungersnot im Niger. Die Lebensmittelproduktion des Landes lag 15 Prozent, die Viehfutterproduktion 40 Prozent unter dem Durchschnitt, Devisen- und Lebensmittelreserven des Staates waren um die Hälfte geschrumpft. Die internationale Reaktion: null. Im März veröffentlichte die UNO einen Niger-Hilfsappell und forderte 16 Millionen Dollar. Die internationale Reaktion: 1 Million. Ende Mai erhöhte die UNO ihren Hilfsappell auf 30 Millionen Dollar. Die internationale Reaktion bisher: rund 10 Millionen Dollar Zusagen und rund 3,8 Millionen Dollar tatsächliche Zahlungen. Deutschland sagte Anfang Juni 500.000 Euro zu.

Zu wenig. Zu spät. „In Niger haben Jahre der Wirtschaftskrise die Kapazitäten der Leute vermindert, schwere Zeiten zu überstehen“, sagte diese Woche Henri Josserand, Chef des Frühwarnsystems der UN-Agrarorganisation FAO. „Daher ist die Krise jetzt im Niger akuter als in anderen Sahelländern. Die Menschen in den betroffenen Gebieten brauchen dringend Saatgut und genug zu essen, um bis Ende Oktober durchzuhalten.“ Dann steht die nächste Ernte an. Aber ein FAO-Appell über vier Millionen Dollar für Saatgut und Viehfutter hat bisher nur eine einzige Zusage erbracht: 650.000 Dollar aus Schweden.

So sieht die Realität der internationalen Afrikahilfe aus – kurz nach dem G-8-Gipfel, als die reichsten Länder der Welt eine beispiellose Erhöhung der Hilfen für Afrika beschlossen, und nach den Live-8-Konzerten, die mit der Erinnerung an die Hungersnot von Äthiopien 1985 „Armut zur Geschichte machen“ wollten.

In nur 19 der 106 Distrikte Nigers ist die Ernährungslage normal, sagen UN-Experten. In 11 leben die Menschen in „extrem kritischen“ Umständen. Das heißt, dass die Männer auf der Suche nach Arbeit fortziehen, die zurückbleibenden Frauen zu schwach sind für Feldarbeit und die Kinder nichts zu essen haben. Dann müssen Organisationen wie „Ärzte ohne Grenzen“ (MSF), die eigentlich für akute Kriegs- und Fluchtsituationen zuständig sind, Zeltstädte aufbauen, um verhungernder Kleinkinder unterzubringen. Egeland zitiert ein solches Ernährungszentrum, in dem innerhalb einer Woche 14 von 61 Kindern gestorben sind – das ist eine Rate wie aus den schlimmsten Hungersnöten.

Ende letzten Jahres, vor dem akuten Hunger, wäre noch ein Dollar pro Kind ausreichend gewesen, kritisiert Egeland. Jetzt kostet die Rettung eines verhungernden Kindes 80 Dollar.

Inzwischen kommen Zusagen in Millionenhöhe: Frankreich verspricht 3,4 Millionen Euro, Marokko und andere arabische Länder haben Hilfsflüge in den fast vollständig islamischen Niger organisiert. „Wir werden das Geld kriegen“, prognostiziert der UN-Chef. „Aber für die schwer Unterernährten ist es zu spät.“

Im Niger selbst steht auch die Regierung unter scharfer Kritik. Bis November 2004, als Präsident Mamadou Tandja wiedergewählt wurde, war Hunger offiziell kein Thema. Im März 2005 erhöhte die Regierung die Steuern auf Grundnahrungsmittel und gab erst nach Massenprotesten klein bei.

Als die Lebensmittelpreise stiegen, besann sich der Staat auf die Marktwirtschaft und verkaufte Lieferungen der Hungerhilfe an private Händler, um das Angebot zu erhöhen. Das ging schief: 7.408 Tonnen Reis aus Japan, von Nigers Regierung für umgerechnet 17,70 Euro pro Zentner-Sack abgegeben, landeten in Nigeria, wo sie für bis zum doppelten Preis verkauft wurden.

Kostenlose Lebensmittelverteilungen sind der Regierung unter den Bedingungen ihrer Zusammenarbeit mit dem Internationalen Währungsfonds (IWF) verboten, kritisiert der prominente Schweizer Soziologe Jean Ziegler, UN-Sonderbeauftragter für den Kampf gegen den Hunger. Er kehrte letzte Woche aus Niger zurück und sprach in Genf von einer „Liquidierung“ der schwächsten Bevölkerungsteile – „Kinder, Kranke, Alte“.