: Leben in der Sprachbude
„Scheiße“ zum Wort des Jahres 2020 gewählt
Massiven Ärger gab es offenbar bei der Wahl zum „Wort des Jahres“ 2020. Beobachter ziehen bereits erste Vergleiche mit dem Skandal um den Literaturnobelpreis, der vor einiger Zeit Schweden erschütterte. Für die Auswahl zum „Wort des Jahres“ ist die in Wiesbaden ansässige Gesellschaft für deutsche Sprache (GfdS) zuständig, ein Verein, der von der deutschen Kultusministerkonferenz und der Kulturstaatsministerin finanziert wird und der es sich nach eigener Aussage zur Aufgabe gemacht hat, die deutsche Sprache zu pflegen und zu erforschen.
Wie aus gewöhnlich gut unterrichteten Kreisen verlautete, konnte sich die GfdS diesmal zunächst nicht auf einen prägnanten Begriff einigen. Die Auswahlkommission zerfiel Insiderberichten zufolge in zwei Fraktionen: Die Gruppe der sogenannten Langweiler wollte eines der großen C-Worte aus dem alles beherrschenden Thema des Jahres küren, während die Gruppe der sogenannten Kultivierten hartnäckigen Widerstand dagegen leistete. Eine solch naheliegende Wahl würde in der Öffentlichkeit den Eindruck verstärken, dass die GfdS eine „verpupte und verschnarchte Clique von Dummbeuteln“ sei, wie es in einer internen Mail der Kultivierten heißt, die der Wahrheit vorliegt.
Bei schriftlichen Beschimpfungen soll es allerdings nicht geblieben sein. In der alles entscheidenden letzten Sitzung sollen die Kultivierten, die sich als Sprachhüter alter Schule verstehen, den Langweilern, den eh seit Jahren alles egal ist, „ein paar Sätze heiße Ohren verpasst haben“, wie Eingeweihte berichten. Anschließend seien die Langweiler eingeknickt und hätten einem Kompromiss zugestimmt, der vorsieht, dass das „Wort des Jahres“ 2020 die Stimmungslage der Sprachnutzer wirklich widerspiegele. Schließlich wurde der Vorschlag der Kultivierten angenommen, „Scheiße“ zum „Wort des Jahres“ zu erklären.
Wäre der Kompromiss nicht zustande gekommen, hätte die, wie Lästermäuler seit Langem bemängeln, sowieso für weite Teile der deutschen Gesamtgesellschaft unerhebliche Wahl zum „Wort des Jahres“ wahrscheinlich zum allerletzten Mal stattgefunden, der Gesellschaft für deutsche Sprache aber hätte ein endgültiges Auseinanderbrechen gedroht. Was wir alten Sprachkritiker von der Wahrheit allerdings dringend begrüßen würden. Findet doch das sprachliche Leben ganz bestimmt nicht in der zum Einschlafen scheißstickigen Bude des Schrebergartenvereins für deutsche Sprache in Wiesbaden statt.
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