PARTY UND POLITIK: NUR EINGEWEIHTE KOMMEN ZUR PRÄSENTATION EINER ROTBUCH-ANTHOLOGIE
: Hohe Brillanz, geringe Resonanz

VON RENÉ HAMANN

Es war noch zu Zeiten der großen Koalition, als ich auf den Brettern des Schlossplatzes saß, im Rücken den neuen Palast der Republik. Es war zehn vor zwei. Die Mitte der Hauptstadt stand leer, und das gefiel mir, man konnte im Zentrum durchatmen, zu sich kommen, die Mühlräder im Kopf entschleunigen. Ich litt ein wenig unter Dopaminunterproduktion, vor allem weil ich sexuell depraviert war und seit einer Woche nikotinfrei. Und ich litt unter Ausbeutung. Ich litt an den Verhältnissen.

Abends zuvor hatte ich das große Pferd geritten, heißt, eine gute Anlage mit guter Musik bespielt, aber es wollte kaum jemand tanzen. Ich hatte nicht wirklich damit gerechnet, dass jemand tanzen wollen würde, es war nämlich ein Donnerstagabend und die Party die Zugabe zu einer Lyriklesung, enttäuscht war ich aber doch. Die Lesung hatte unter meiner Beteiligung im altehrwürdigen SO36 stattgefunden, sie war im Wesentlichen eine Verlagsidee, eine Buchpräsentation, es wurde eine Anthologie mit neuer politischer Lyrik vorgestellt. Aber es kam, wie es in diesen Zusammenhängen immer kommt: Erst hört keiner zu und dann will keiner tanzen. Dabei war das Programm gut und das SO36 nicht schlecht besucht. Jedenfalls für Lyriklesungsverhältnisse. Lyrik funktioniert nämlich seit langem ähnlich wie Neue Musik: Zu den Veranstaltungen kommen hauptsächlich Eingeweihte, dazu ein bisschen Anhang, und einige wenige, die mal neugierig die Nase in die Sache stecken. Die Gleichung lautet ungefähr: hohe Brillanz mit entsprechend geringer Relevanz. Mag sie so politisch daherkommen, wie sie will, die Lyrik.

„Die Verbindung von Liebe und Politik? scheint die neueren Vertreter der Zunft wenig zu reizen“, schrieb der Tagesspiegel zu dem vorgestellten Buch („Alles außer Tiernahrung“, Rotbuch Verlag), und im Wesentlichen stimmt das sogar, und auch die Verbindung von Party und Politik ist nicht so die angestrebte. Jedenfalls war um kurz nach eins Schluss, die Techniker konnten ihren Feierabend einläuten, die Menschen vom Verlag waren längst zuhause, die Autoren mehrheitlich auch. Dabei waren sie die einzig Unbezahlten an diesem Abend.

Die temporäre Kunsthalle sah gut aus, in dieser Verkleidung, und ich dachte weiter über künstlerischen Wagemut nach. Über den Bewertungszusammenhang Netzwerk/Seilschaft. Über Kritik und Freundschaft, Selbstausbeutung und falsche Solidarität. Über den Unterschied zwischen Nettsein und Anmachen. Am Freitagabend fand ein kleines Festival im West Germany statt, ich vertrat den erkrankten DJ, fast mit denselben Platten wie am Vorabend, auch diesmal tanzte niemand, aber diesmal war das vorher klar, ich war nur für die Pausen zwischen den Bands da. Gefeiert wurde das Fanzine Renfield, das aussieht, wie die Fanzines früher ausgesehen haben, damals, in der Zeit der christlich-liberalen Koalition. Die Anlage war angemessen schrottig, der CD-Spieler brauchte Schubhilfe und zeigte keine rücklaufende Zeit an, der zweite Schallplattenspieler wollte auch nicht so, aber unter dem Strich wurde es ein sehr netter Abend. Was auch an dem Balkon lag, den das West Germany hat. Der Mond stand schief über den Dächern Kreuzbergs, und am Ende wunderte sich jemand, dass es in Berlin überhaupt Sterne zu sehen gibt. Die Sittsamen gingen allein nach Hause.

Am Sonntag wurde gewählt, während die Sonne schien, die gelbe Sau, und auf den Brettern am Schlossplatz wurden Bücher gelesen. Vor dem Wahllokal wurde jemandem das Fahrrad geklaut, jemand anderes fiel gleichzeitig vom Pferd, und wir hatten uns gefragt, ob es eigentlich einen Röntgenbild-Fetischismus gibt. Anhängern dieser Richtung sei der neue Almodóvar empfohlen. Den anderen eher nicht so.