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Archiv-Artikel

Aleida und ihr Bruder

Im „Schmutzigen Krieg“ der Siebzigerjahre verschwanden auch im „revolutionären“ Mexiko unzählige Oppositionelle. Deren Kinder machen sich heute auf die Suche nach den Spuren ihrer Geschichte

VON ANNE HUFFSCHMID

Als das Handy kurz nach Mitternacht das erste Mal klingelte, hörte sie es gar nicht. Sie waren tanzen gegangen, Aleida und ihre Begleiter, ein wenig ablenken und entspannen. Die Erschöpfung war riesig, zehn Tage rastloser Recherche lagen hinter ihnen, Telefonieren, Pressekontakte, Internet, Adressen abklappern, rund um die Uhr. Das alles in einer fremden Stadt, Washington mitten im Winter.

„Wie die Detektive waren wir unterwegs“, sagt Aleida Gallangos lächelnd. Und dann kam jener Weihnachtstag. Und dieser Anruf. Um 9.10 Uhr morgens nimmt sie ihn endlich entgegen, an die Uhrzeit erinnert sich die junge Mexikanerin genau. „Wen suchst du?“, fragt eine Männerstimme.

Das Gesicht der 31-Jährigen ist rund, die Stimme weich. Eine kleine Frau, doch ihre Sätze und Bewegungen sind von einer eigenartigen Kraft und Konzentration, großer Nachdruck liegt in allem, was sie erzählt. Aleida Gallangos’ Geschichte hat mehrere Anfänge. Und kein Ende.

Am Anfang war ein Zeitschriftenartikel. „Wo sind sie?“ war die Reportage in der Wochenendbeilage einer Tageszeitung betitelt, eine alte Frau suchte ihre Enkelkinder. Vorne prangten zwei alte Babyfotos, ein kleines Mädchen mit dunklen Knopfaugen, ein Junge in geblümtem Laken. Das war im September 2001. Da wusste die junge Frau namens Luz Elba Gorostiola zwar schon seit einiger Zeit, dass sie adoptiert war. Wie sie in Wirklichkeit hieß und wer ihre Eltern waren, wusste sie nicht. Auch ihre Adoptivfamilie hatte keine Ahnung, die Kleine wurde ihnen von einem Verwandten gebracht, „aus Sicherheitsgründen“ erfuhren sie nichts Näheres.

Nun also rief der Adoptivvater Alejandro aufgeregt in Ciudad Juárez an, einer Stadt an der mexikanischen Nordgrenze, wo Luz Elba in einer Autofabrik arbeitete. „Kauf dir sofort diese Zeitschrift“, befahl er. Sie kaufte, las und versuchte zu begreifen. Kurz darauf saß sie schon im Flugzeug nach Mexiko-Stadt, wenig später traf sie Doña Quirina Cruz, eine stolze Greisin aus dem südmexikanischen Oaxaca, die Protagonistin in jenem Zeitungsbericht.

Die 82-Jährige ist ihre leibliche Großmutter, sie selbst das Baby auf dem Foto. Fast dreißig Jahre ist es her, dass Doña Quirina ihren Sohn Roberto und die Schwiegertochter Carmen zum letzten Mal gesehen hat. Auch deren beider Kinder waren seit jener Zeit wie vom Erdboden verschluckt. All die Jahre hat die alte Dame fest geglaubt, dass ihre Enkel eines Tages auftauchen würden. Und mitleidige Blicke geerntet. Nun ist die Enkelin tatsächlich zu ihr gekommen, vom anderen Ende des Landes.

Ganz am Anfang ist ein schwarzes Loch. In der Erinnerung Aleida Gallangos’ gibt es keine Bilder, nicht von der Großmutter, nicht von ihren Eltern. Doch da sind Fotos, Namen und ein paar Lebensdaten: von einer jungen Frau namens Carmen Vargas, Lehrerin. Von deren Gefährten Roberto Gallangos, der 1964 mit seiner Familie von der Provinz Oaxaca in die Hauptstadt zog. Der Junge beginnt früh, sich für Politik zu interessieren, schon als 18-Jähriger ist er bei den Studentenprotesten im Sommer 1968 aktiv, wird verhaftet und verbringt ein paar Monate im Gefängnis. Zu seinem Glück: Als am 2. Oktober im Bezirk Tlatelolco protestierende Studenten von paramilitärischen Scharfschützen zusammengeschossen werden – die genaue Zahl der Ermordeten ist bis heute ein Rätsel, Schätzungen gehen von mindestens 150 aus –, wird er gerade aus der Haft entlassen. Dort hatte er die späteren Gründer der bewaffneten „Kommunistischen Liga 23. September“ kennen gelernt. Zunächst führen Carmen und Roberto noch ein diskretes Familienleben, die Kinder werden geboren und revolutionär getauft, Aleida nach der Tochter des Che, Lucio Antonio nach dem mexikanischen Guerillaführer Lucio Cabañas. Einige Zeit darauf später wird Roberto von seinen alten Zellengenossen kontaktiert und für die „Liga“ angeworben.

Banküberfälle und Aktionen bewaffneter Propaganda im ganzen Land stehen auf der Agenda, ab 1974 lebt die vierköpfige Familie im Untergrund. Bei einer Razzia wird im Juni 1975 der dreijährige Lucio Antonio angeschossen und von Polizisten mitgenommen. Kurz darauf wird der Vater verhaftet, ein paar Wochen später die Mutter.

Danach teilen sich die Geschichten. Der Junge kommt nach der Genesung ins Waisenhaus und wird 1976 in Adoption gegeben. Seine kleine Schwester bringt Carlos, ein Kampfgefährte des Vaters, in die Obhut der Familie seines Bruders Alejandro. Dort wird das kleine Mädchen als neuntes Kind aufgenommen, nur den Namen sollen sie ändern. Als Carlos wenig später von der Polizei erschossen wird, ist jede Verbindung zwischen der Ursprungs- und der Adoptivfamilie gekappt.

Aleida wird zu Luz Elba. Behütet wächst sie bei den Gorostiolas in einem Außenbezirk von Mexiko-Stadt auf. Es gibt einen kleinen Hof, viele Geschwister, wenig Zeit zum Grübeln. Luz Elba ist ein waches Mädchen, immer vorneweg, ein Organisationstalent. Doch das Grüblerische verliert sich nie ganz. Warum nur ist die eigene Haut so viel dunkler als die der Geschwister? Eine Tante nimmt sich ein Herz und erzählt der 16-Jährigen, dass sie adoptiert ist. „Das war ein Schock, als ob die ganze Welt sich gegen mich verbündet hätte.“ Mehr erfährt sie nicht. Das Leben geht seinen Gang: eine heimliche Liebe, Abhauen von Zuhause, eine Ausbildung als Ingenieurin. Sie zieht mit ihrem compañero gen Norden, wo es Arbeit geben soll, und findet eine Stelle bei den maquiladoras, den Weltmarktfabriken. Dann kam der Zeitungsartikel.

Ein weiterer Anfang liegt im Jahr 2002, als auf Geheiß des Präsidenten Vicente Fox die „Sonderstaatsanwaltschaft für soziale und politische Bewegungen der Vergangenheit“, kurz Femospp oder Fiscalia, ins Leben gerufen wurde. Die Repressionsgeschichte des alten Regimes werde neu aufgerollt, hatte Fox nach seinem Wahlsieg im Sommer 2000 versprochen, die Verantwortlichen sollten verurteilt und die Wahrheit über all die Verschleppten, Gefolterten und Ermordeten ans Licht befördert werden (siehe Randspalte nächste Seite). Damals hatte Doña Quirina Hoffnung geschöpft und einem Reporter von ihrer Familie erzählt.

Aleida kam – doch der Bruder blieb verschwunden. Zwei Jahre lang schreiben Enkelin und Großmutter an die Fiscalia, leiten Hinweise weiter, hoffen auf Ermittlungen. Nichts passiert. Anfang 2004 macht sich Aleida selbst an die Archive von Militärhospital und Waisenhaus. Dabei stößt sie auf die Akte eines kleinen Jungen, der sich Tony nannte, wie Antonio. Der Verdacht bestätigt sich, endlich eine Spur: das Geburtsdatum und der neue Name, Juan Carlos Hernández. „Die Fiscalia hätte das genauso gut rausfinden können“, sagt sie heute erbost.

Doch die Behörde wiegelt ab, Aleida dürfe nicht eigenmächtig weiterforschen und vor allem die neue Familie nicht belästigen. Die scheint sich tatsächlich bedroht zu fühlen: Die beiden Töchter der Familie Hernández teilen ihr mit, Aleida möge Ruhe geben. Sie drohen, legen falsche Fährten. Aleida lässt einen Anruf zurückverfolgen und erfährt so, dass die Schwestern in Washington leben. Vielleicht ja auch der Bruder. Und so beschließt sie im Dezember 2004, ihr Glück dort zu versuchen.

Die Fiscalia hatte ein Flugticket spendiert, immerhin, doch sonst hat Aleida zunächst nichts in der Hand außer einem Namen, ein paar Kontaktadressen – und einen unerwarteten Schutzengel. Vor ihrer Reise hatte sie im Washingtoner Telefonbuch alle Juan Carlos Hernández durchtelefoniert. Dabei geriet sie am Ende des Telefonmarathons an einen, den sie in ihrer Verzweiflung anfuhr: „Bist du sicher, dass du aus Puerto Rico und nicht aus Mexiko bist?“ – „Ziemlich sicher“, antwortet der irritiert, aber sie möge doch kurz erklären, worum es gehe. Der Puerto-Ricaner, ein schwuler Sozialarbeiter, ist angerührt von der Geschichte der Mexikanerin. Als Aleida in Washington landet, stellt er ihr in seinem winzigen Apartment Bett, Tisch und Computer zur Verfügung, kutschiert sie durch die Gegend und mobilisiert seine Gay Community. Reporter werden kontaktiert, wieder und wieder erzählt Aleida in spanischsprachigen Medien von ihrer zerrissenen Familie, schreibt offene Briefe und hofft, auf einem der Kanäle den Bruder zu erreichen. Schließlich erfährt sie von einem Pförtner, in welchem Restaurant eine der Schwestern, Rosa, kellnert. Mit Herzklopfen und einem dicken Ordner unterm Arm betritt sie das Lokal. Doch Rosa reagiert verschreckt und feindselig. Nichts wissen will sie, keine Dokumente ansehen, nur schnell gehen sollen die unliebsamen Gäste. Widerwillig notiert sie die Telefonnummer.

Noch ein Fernsehbericht soll am Weihnachtsabend in den Spätnachrichten laufen. Rosa wird benachrichtigt, sie möge doch wenigstens den Fernseher anmachen. Mehr können Aleida und ihre Helfer nicht tun, sie gehen in eine Salsa-Bar, endlich abschalten. Wie sie später erfahren, hatte die Schwester in jener Nacht tatsächlich den Bericht gesehen und in ihrer Ratlosigkeit die Mutter Hernández in Mexiko verständigt. Diese möge entscheiden, was zu tun sei. Die Mutter rief noch in der Nacht ihren Sohn in Washington an und gab ihm eine Handynummer.

Die Männerstimme habe sich nervös angehört, erinnert sich Aleida, ungeduldig, fordernd. Auf die Frage „Wen suchst du?“ erzählte sie aus ihrer Erinnerung, vom Puzzlespiel, von der Großmutter, von der zerlöcherten Kindheit. Sie traut sich kaum, zu fragen. „Ich bin Juan Carlos“, antwortet er.

Für Juan Carlos fängt die Geschichte mit einem Ende an. Nie war ihm der Verdacht gekommen, dass seine Eltern, eine bitterarme Familie aus einer kleinen Ortschaft, drei Autostunden von der Hauptstadt, nicht seine Eltern sein könnten, seine jüngeren Schwestern nicht seine wahren Schwestern. Die Erinnerung an die ersten Jahre ist verwischt, in einer Art Internat sei er aufgewachsen, hatte man ihm erzählt. Erst jetzt merkt er, wie seltsam diese Erklärung ist. Seine Welt liegt seit jenem Dezembermorgen in Scherben, ohne jede Vorwarnung. „Du hast viele Jahre gesucht“, hatte er zu Aleida am Telefon gesagt, „ich habe auf niemanden gewartet.“ Das erste Telefonat dauert zwei Stunden. Er gibt ihr eine E-Mail-Adresse und bittet um weitere Informationen. Von nun an telefonieren sie täglich.

Sie möchte ihn so gern sehen. „Gib mir ein bisschen Zeit“, bittet er. Seine Adresse mag er nicht verraten. Doch er verspricht, an einem der letzten Dezemberabende vorbeizukommen. Aleida macht mexikanische Tacos, sie ist voll Unruhe. Dann klingelt es. Bruder und Schwester stehen unschlüssig voreinander, einen Freund hat er zur Verstärkung mitgebracht. Die beide sehen alte Fotos an, reden, kaufen ein, kochen, reden. Auch Silvester verbringen sie zusammen, er bringt sie zum Flughafen, sie fliegt zurück nach Mexiko. Seitdem telefonieren sie regelmäßig.

Etwas Schwermütiges sei um ihn, meint Aleida. Seit über zehn Jahren arbeitet Juan Carlos, der nur ein paar Jahre zur Schule ging, in den USA, auf dem Bau. Ohne Papiere. Er lebt allein, ohne Kinder, ohne Frau. Die Familie in Mexiko hängt von den regelmäßigen Geldsendungen ab. Dass der verschlossene Mann der Gesuchte ist, daran hat Aleida seit jenem Treffen keinen Zweifel, „er sieht doch genauso aus wie meine Onkel“. Inzwischen hat dies auch ein DNA-Test bestätigt. Die Medien nehmen den Fall begierig auf. Unvermittelt wird Juan Carlos, der so lange als Illegaler unsichtbar war, ins Scheinwerferlicht gezerrt. Reporter suchen ihn auf, die Mitglieder der Familie Gallangos schreiben ihm E-Mails: „Du warst der Liebling des Großvaters.“ Er schreibt zurück: Er verstehe ja ihr Glück. Nur: Er habe doch schon Vater und Mutter und Schwestern. Auf seine Adoptivfamilie, die Aleida so feindselig abgewiesen hatte, lässt er nichts kommen. Aleida sagt, sie sei nicht gekränkt. „Wer könnte besser verstehen als ich, was er durchmacht?“ Ein neues Ich kann sehr verstörend sein.

Aleida selbst lotet ihr neues Ich beständig aus – auch politisch. Im April dieses Jahres hat sie das erste Treffen von Söhnen und Töchtern der mexikanischen desaparecidos, der Verschwunden, mit initiiert. Sie nennen sich „nacidos en la tempestad“, im Sturm geboren. Der Sturm, das sind die Siebzigerjahre. Der libertäre Studentenaufbruch 1968 war mit dem Massaker von Tlatelolco zu einem abrupten Ende gekommen. Ein paar hundert wanderten hinter Gitter, andere tauchten ins bürgerliche Leben ab, wieder andere wechselten später nach einer Amnestie in die Dienste der Regierung. Mehr als tausend glitten in die Klandestinität.

Keine Guerilla Lateinamerikas ist so vergessen, so isoliert und so verdrängt wie die mexikanische“, sagt der Autor Fritz Glockner, selber Sohn eines 1976 hingerichteten Guerilleros. Denn paradoxerweise genoss das Regime der „Institutionellen Revolution“ bei politisch Verfolgten aus Chile oder Argentinien einen Ruf als antifaschistischer Zufluchtsort. Zur gleichen Zeit führte die Regierung, von der Weltöffentlichkeit weitgehend unbeachtet, Krieg gegen die „Subversion“ im eigenen Land. Oppositionelle Aktivisten, Bauernführer und bewaffnete Kämpfer wurden in der Hauptstadt, vor allem aber in ländlichen Provinzen wie Guerrero oder Oaxaca, von Polizei und Paramilitärs verschleppt.

Lange Jahre waren es vor allem die Mütter der desaparecidos, die gegen das staatliche Schweigen mobil machten; ihre Galionsfigur ist die Gründerin der Gruppe Eureka, Rosario Ibarra, deren Sohn im April 1975 als mutmaßlicher Guerillero entführt wurde und von dem sie seither nie wieder etwas gehört hat. Nun machen sich die erwachsen gewordenen „Waisen der Repression“ auf die Suche. 300 solcher „Waisen“ soll es geben, für die Zusammenkunft im April konnten aus einer Liste von 100 Namen 35 kontaktiert werden. 25 sind gekommen.

25 von 300, das ist nicht viel. Die Recherchen stehen am Anfang, noch gibt es kaum Geld. Und: „Wir respektieren alle, die nichts davon wissen wollen“, sagt die junge Historikerin Adela Cedillo, die die Gruppe berät. „Für die meisten, die zu uns kamen, war es ein Wagnis, die eigene Geschichte nicht länger im Flüsterton, sondern laut vor einem Publikum zu erzählen“, sagt Fritz Glockner, der Mitorganisator.

Der Schwerpunkt ihrer Arbeit liegt weniger auf der politischen Anklage. Was sie fordern, sind effiziente Ermittlungen, etwa bei der Suche nach den verschwundenen Babys, juristische Aufarbeitung und professionelle Hilfe für die Familien. „Dutzende Archäologen graben hier nach prähispanischen Grabstätten, kein einziger sucht nach Überresten aus dem Schmutzigen Krieg“, sagt die Historikerin. Allerdings sind die Ausgrabungen auch bei den Müttergruppen umstritten. Gruppen wie Eureka lehnen die „Knochensucherei“ als Kapitulation im Kampf um ihre Kinder strikt ab. Den „Sturmgeborenen“ ist das zu abstrakt. „Wir können nicht länger auf Godot warten“, sagen sie; Aleidas Beispiel habe Mut gemacht.

Den Behörden hingegen galt die junge Gallangos lange als „kleine Irre“, die die staatlichen Ermittler mit ihrer Ungeduld nervte. Ihre harsche Kritik an der offiziellen „Inkompetenz“ wurde von der Presse weit verbreitet. Noch heute, wird berichtet, verdrehen Funktionäre die Augen, wenn die Sprache auf sie kommt. Die Kränkung, dass der erste „gelöste Fall“ auf ihr Konto und nicht das der Fiscalia geht, scheint tief zu sitzen.

Gegenüber der ausländischen Reporterin ist alles eitel Sonnenschein. „Ich liebe doch Aleida“, betont Ignacio Carrillo Prieto, der von Präsident Fox ernannte Sonderstaatsanwalt. Aleida habe ihren Bruder ja praktisch „überfallen“, ohne jede Vorbereitung, moniert der distinguierte Jurist, es mangele ihr an Takt, Geduld und diplomatischem Talent.

Wahrheit ohne Gerechtigkeit, argumentiert der Anwalt, das funktioniere nicht, wie man in Südafrika, Guatemala oder Peru gesehen habe. Dort hatten Wahrheitskommissionen umfangreiche Berichte über Menschenrechtsverbrechen vorgelegt, jedoch ohne jede juristische Verbindlichkeit. Das solle in Mexiko nun anders werden: Bis zu 55 Personen sollen laut Carrillo Prieto noch dieses Jahr auf die Anklagebank, wegen der Massaker an Studenten und der Verschleppung von Oppositionellen. „Keine kleinen Soldaten, sondern die Befehlshaber“, darunter der ehemalige Innenminister und spätere Präsident Luis Echeverría (1970–1976), dem die politische Verantwortung für das staatliche Morden gegeben wird. Ausdrücklich plädiert der Sonderstaatsanwalt dafür, den Begriff des Genozids für Mexiko geltend zu machen, auch wenn die Zahl der Toten hier nicht in die zehntausende geht und das Morden nicht ethnisch begründet ist. „Hier geht es um die systematische Eliminierung der politischen Dissidenz – und zwar bewaffnet und nicht bewaffnet.“

Allein: In den mehr als drei Jahren des Bestehens der Fiscalia ist es zu keinem einzigen Prozess, geschweige denn zu einer Verurteilung gekommen. So wurde ein ehemaliger Polizeichef von den Richtern aus „Alters- und Gesundheitsgründen“ auf freien Fuß gesetzt. Auch das Verfahren gegen Luis Echeverría, der als Symbolfigur der mexikanischen Repression eine Art mexikanischer Pinochet ist, wurde per Gerichtsbeschluss Anfang 2005 wegen „Verjährung“ in weite Ferne gerückt. Nun wird es aufgrund einer neuen Entscheidung (siehe Randspalte) zwar womöglich zu einem Haftbefehl kommen. Ob der 83-Jährige aber hinter Gitter muss, ist zweifelhaft.

Die ergebnislose Arbeit von Fiscalia halten ihre Kritiker für eine Farce in verteilten Rollen. „Offenbar gab es die Order, dass man zuhauf Anklagen erhebt, wie schlecht auch immer die Aktenlage ist“, meint etwa die Rechtsexpertin Adela Cedillo, „man geht ja sowieso davon aus, dass das bei den Gerichten nicht durchkommt.“

Der politjuristische Streit ist Aleida eher fremd. Das Verlangen nach Bestrafung der Mörder stehe für sie, wie sie nach einigem Nachdenken sagt, bislang „nicht im Vordergrund“. Wichtiger ist ihr „Wahrheit“, das Wissen, was damals wirklich passiert ist. Sie will weiter in den Archiven forschen, zusammen mit den anderen Kindern, vor allem aber in eigener Sache. Ihre Großmutter lässt bis heute nicht von dem Glauben ab, dass Sohn und Schwiegertochter noch leben. Irgendwo. Dass sie geflohen sind oder in Gefangenschaft gehalten werden, aber lebendig. Solange sie ihr keinen Leichnam zeigen, wird sie daran festhalten. Aleida sieht das eher umgekehrt. „Ich bin eine empirisch denkende Person“, sagt sie, die sich an Fakten und Wahrscheinlichkeiten hält. Dass sie Juan Carlos gefunden hat, damit hat sich für Aleida schon ein Traum erfüllt. Im Juni flog sie nach Washington, um dem Bruder für ein paar Monate näher zu sein. Sie hat sich einen Job als Kellnerin gesucht, lernt Englisch. Wohnen kann sie bei ihrem einstigen „Schutzengel“, dem schwulen Puerto-Ricaner. „Ich bin zwar nicht dein biologischer Bruder“, hat dieser andere Juan Carlos zu ihr gesagt, „aber dein Bruder im Geiste.“

Ein Happyend aber gibt es nicht. Das schwarze Loch, das seit dreißig Jahren in ihrem Leben klafft, bleibt aufgerissen. Ein letzte Aufnahme findet sich in den Akten von Roberto Gallangos, im Gefängnis kurz nach seiner Verhaftung im Sommer 1975. Ein trotzig blickender junger Mann in Handschellen und in fleckigem Hemd, für einen kurzen Moment aus dem Kerker vor den Fotografen gezerrt, sichtlich um Fassung bemüht. Was danach kam, Folter, Panik und irgendwann wohl der Tod, bleibt im Dunkeln. Für Aleida Gallangos ist der Mann auf dem Foto ein fremder Mann. Und doch ist er ihr Vater.

ANNE HUFFSCHMID, lange Mexiko-Korrespondentin der taz, lebt heute als freie Autorin und Kulturwissenschaftlerin in Berlin. Kennen gelernt hat sie Aleida Gallangos über die Dokumentarfilmerin Christiane Burkhard, die deren Suche mit der Kamera begleitet hat und derzeit einen Film über ihre Geschichte vorbereitet