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Archiv-Artikel

Höllenreiter vor den Engeln

RADRENNEN Die Briten glauben an das Gute trotz des Erfolgs von Ex-Doper Winokurow

AUS LONDON ANDREAS RÜTTENAUER

Für diesen Tag war keine Sonnencreme stark genug. So viel Sonnenbrand war selten in der Londoner U-Bahn. Nach dem Straßenrennen der Radprofis am Sonntag, das mehr Menschen verfolgt haben als je ein Radrennen zuvor, sind nicht wenige erschrocken, als sie nach der Entscheidung im gedämpften Licht des Londoner Untergrunds erkannten, was die Liebe zum Radsport ihrer Haut angetan hat. Die Briten haben das Straßenradrennen, das im historischen Herzen der Stadt, gestartet und beendet wurde, zu dem Publikumsevent der Spiele gemacht. Stundenlang harrten sie an der Strecke aus – in der Stadt, auf dem Land, den ganzen Tag. In Deutschland mag der Radsport tot sein. Auf der Insel lebt er. Dort liegt das Radsportparadies. Gewonnen hat am Ende ein Untoter, direkt aufgestiegen aus der Hölle der sinistren Pedalritter.

Der Olympiasieger kommt aus Kasachstan. Doch die Briten werden sich so schnell nicht aus ihrem Paradies vertreiben lassen, auch wenn ihr Favorit an diesem Tag, Weltmeister Mark Cavendish, keine Chance hatte. Sie glauben einfach an das Gute im Radsport. Der Sieg von Alexander Winokurow, der sieben Kilometer vorm Ziel einem Angriff des späteren Silbermadaillengewinners Rigoberto Uran aus Kolumbien als Einziger hat folgen können, war nicht mehr als eine kleine Ohrfeige für die britischen Fans. Ihr Sonnenbrand wird sie länger beschäftigen als die Wiederauferstehung eines verurteilten Sportbetrügers.

Den Briten gehört weiterhin der Sieg bei der Tour de France, für den sich Bradley Wiggins am Ende des olympischen Straßenrennens, als er abgeschlagen und alleine über die Ziellinie gefahren ist, noch einmal hat feiern lassen. Er war es, der mit seinem Triumph in Frankreich die Olympiastimmung im Land hochgehalten hat. Seine Leistungen überlagerten die Debatten um Probleme im Londoner Nahverkehr und die militärische Absicherung der Spiele. Er wird als Vorbild für eine ganze Nation beinahe überall vorgeführt. Sogar als Rettungsengel für die kränkelnde Wirtschaft taugt er. Weil Wiggins so gut gefahren ist, ist der Umsatz im Fahrradhandel in der letzten Woche der Tour de France um fünf Prozent gestiegen, wie Zahlen der Kreditkartenfirma Visa belegen. Fünf Prozent Wachstum! Ein wahre Traumzahl im Krisenland Britannien.

Kein Wunder, dass so einer dazu ausersehen wird, die olympische Glocke zum Auftakt der Spiele im Olympiastadion anzuschlagen. Die Engel, die gegen Ende der Eröffnungsfeier durch das Stadion flogen, sie saßen auf Fahrrädern. Auf einem solchen sitzt auch der Fahnenträger der britischen Mannschaft für gewöhnlich, der vierfache Olympiasieger Chris Hoy, der längst von der Königin zum Ritter geschlagen worden ist. Ein solcher soll auch Wiggins werden. Eine Initiative setzt sich bereits öffentlich für den Ritterschlag ein. Wo in Deutschland längst weggehört wird, da schenkt man auf der Insel einem wie Wiggins noch Glauben. Dopen würde er nie, hat er gesagt, das ginge gar nicht. Wie könne er sich da noch sehen lassen in seinem Dörfchen in Lancashire.

„Das Doping-Kapitel liegt hinter mir“, sagte Winokurow nach seinem Olympiasieg. Bei der Tour de France 2007 war er mit fremden Blut in den Adern unterwegs. Dafür ist er zwei Jahre gesperrt worden. Er ist immer für Teams gefahren, deren Fahrern eine besondere medizinische Behandlung zuteilwurde, bei Liberty Seguros, wo Eufemiano Fuentes seine Eigenbluttherapien früh etabliert hat, zuvor beim mittlerweile berüchtigten Team T-Mobile und schließlich beim nicht weniger umstrittenen und einmal sogar von der Tour ausgeschlossenen kasachischen Staatsteam Astana. Der deutsche Molekularbiologe und Dopingexperte Werner Franke stellte deshalb am Sonntag fest: „Der Sportler ist voll versaut. Und das ist bewiesen. Deshalb passt sein Sieg zu seiner Doping-Biografie.“

Winokurow hingegen erklärte nach seinem Triumph: „Es ist jetzt nicht die Zeit, über Doping zu sprechen.“ Am Mittwoch will der 38-Jährige mit dem Zeitfahren seine schmutzige Karriere, in der er sich unter anderem den Sieg beim Frühjahrsklassiker Lüttich–Bastogne–Lüttich gekauft haben soll, endlich beenden.

Auf dieses Rennen freuen sich die Briten besonders. Die Goldmedaille ist fest eingeplant. Bradley Wiggins soll sie gewinnen. Auf Gelb soll Gold folgen. Und niemand wird sich wundern, wenn danach der Umsatz in den Fahrradläden wieder ansteigt.