: Und Angela lächelt immer noch
MAXIM GORKI Volker Lösch inszeniert im Schauspiel Stuttgart „Nachtasyl“ als Abgesang auf die absteigende Mittelschicht, die er aus ihrer Lethargie reißen möchte
Angelas Lächeln verströmt Zuversicht. Doch dass „Der Aufschwung kommt“, wie der Slogan neben dem Konterfei der alten und neuen Bundeskanzlerin auf dem raumhohen CDU-Wahlplakat verspricht, will ihr keiner glauben.
Zumindest nicht die Protagonisten auf der Bühne im Stuttgarter Schauspielhaus. Sie kauern in der schmalen Öffnung, welche das Gesicht auf der Fotowand in Augenhöhe quer durchschneidet, und erzählen im chorischen Stakkato vom Land der Gerechten, das selbst der Gelehrte nicht finden konnte. Woraufhin der arme Mensch, der dieses Land suchte, erst den Gelehrten umbrachte und sich dann erhängte.
Die böse Parabel stammt aus „Nachtasyl“. Am Schauspiel Stuttgart ist – wie immer bei dem Regisseur Volker Lösch – von Maxim Gorkis 1902 uraufgeführtem Sozialdrama nicht allzu viel übrig geblieben. Stattdessen werden in „Nachtasyl Stuttgart“ die Folgen der Wirtschafts- und Finanzkrise für die Menschen ganz konkret vor Ort untersucht.
Anders als bei Gorki geht es hier allerdings nicht um die Ärmsten und Deklassierten am untersten Rand der Gesellschaft, sondern um die von Arbeitsplatzverlust und sozialem Abstieg bedrohte Mittelschicht. Gorkis Figuren wurden sozusagen mit Regionalbezug an die Gegenwart angepasst.
Das Thema scheint prädestiniert für einen Chor aus Laiendarstellern, die ihren Unmut herausschreien, wie beispielsweise in Löschs Hamburger „Marat“-Inszenierung. In Stuttgart jedoch stehen ausnahmslos Schauspielprofis auf der Bühne. Sie agieren sowohl chorisch als auch in Einzelrollen. Laut Regisseur hat das auch damit zu tun, dass im von einem pietistischen Arbeitsethos geprägten Schwabenland die Skrupel groß sind, sich schon als Kurzarbeiter zu outen. Die 33 Bürger, aus deren Aussagen zu ihrer Arbeits- und Lebenssituation Volker Lösch, Dramaturg Jörg Bochow und die Schauspieler die Bühnencharaktere entwickelt haben, werden demzufolge als anonyme Mitautoren angeführt
Ihre elf Stellvertreter auf der Bühne kraxeln geradezu akrobatisch bis zur Erschöpfung die Wahlplakatwand hoch und runter. Das Bühnenbild von Löschs Stammausstatterin Cary Gayler ist nicht nur ein Blickfang, sondern auch eine frappierend sinnfällige Metapher für den tiefen Fall aus der gesicherten Existenz und den mühsamen bis vergeblichen Versuch des Wiederaufstiegs.
„Nachtasyl Stuttgart“ weist die bekannten Ingredienzien einer Volker-Lösch-Inszenierung auf: Ob im Chor oder solo – gesprochen wird fast so schnell wie bei Pollesch, das Spiel ist hochgradig körperbetont. Zugunsten der Deutlichkeit von Löschs bis zur schonungslosen Kenntlichkeit verzerrten Gesellschaftsanalysen wird schon mal vereinfacht. Dieses Dokumentartheater ist zwar der Wirklichkeit abgelauscht, aber künstlerisch geformt und stilisiert. Dabei ringt das großartig aufspielende Ensemble den einzelnen Charakteren viel Profil ab.
Der gefeuerte Banker, der verzweifelte Kurzarbeiter, der Taxifahrer mit Uniabschluss, der skrupellose Dieb, die Alleinerziehende ohne Job, der vor der Insolvenz stehende Unternehmer und all die anderen: Jeder hangelt sich auf seine Weise durch die Krise und macht sich – befördert von den Beschwichtigungen des Sozialarbeiters – dabei ganz gehörig was vor.
Die (noch) mittelständischen Opfer der Wirtschaftskrise sind zu mutlos oder möglicherweise zu träge zum Aufstand. Und das ist auch das eigentliche Thema von Lösch. Mehr als um eine sozialpsychologische Bestandsaufnahme geht es ihm darum, aus dieser Lethargie aufzurütteln. Nicht zuletzt natürlich das Publikum. Wie kann das gelingen? Via Empathie oder über die Analyse? Nicht erst seit der gerade mal wieder virulenten Regietheaterdebatte scheiden sich hier die Geister. Volker Lösch ist näher bei Brecht als beim antiken Drama oder bei Schiller. Das ist insofern folgerichtig, als die satirisch zugespitzten typisierten Profile des kleinen Manns 2009 eher zum Klamauk taugen als zur Tragödie. Was die Inszenierung wiederum sehr unterhaltsam macht. Erst in der letzten halben Stunde jedoch gewinnt das Stuttgarter „Nachtasyl“ die Brisanz, die zuvor von allzu viel Satire überdeckt wurde. Erst dann entstehen intensive Szenen, bei denen einem das Lachen gefriert, weil das Schicksal der Figuren auf der Bühne nahegeht. Oft klingt an diesen Stellen die Qualität von Gorkis Text an. Oder Lösch findet starke Bilder. So wenn Massen von Brotlaiben aus einem Spalt auf die Spielfläche herunterdonnern, der Zeitarbeiter sich mechanisch Brot in den Mund stopft und der Unternehmer, der die anderen mit einem Stuttgart angeblich bevorstehenden Wirtschaftsuntergangsszenario konfrontiert hat, von diesen niedergemetzelt wird. „Angie“ säuseln die Rolling Stones zum Schluss, und Angela lächelt vom Wahlplakat noch immer. Aber im „Nachtasyl Stuttgart“ ist es sehr ungemütlich geworden.
CLAUDIA GASS