: Das große Aufräumen
SPD Frank-Walter Steinmeier wird nicht Parteichef. Widerstand kam nicht nur aus den Reihen der Parteilinken, die eine Abkehr von der Agenda-Politik fordert. Auch die Netzwerker und Seeheimer wollen einen personellem Neuanfang in der Parteiführung
AUS BERLIN STEFAN REINECKE
Keine 24 Stunden nach dem Wahldesaster vom Sonntag brach sich all der angestaute Unmut in der SPD Bahn. Hartz IV, die Rente mit 67, die Machtworte, die Wahlniederlagen – es war am Ende mehr, als die Partei zu ertragen bereit war. Den Anfang machte Franz Münteferings holprige Ankündigung, als Parteichef zurückzutreten. Er glaubte da noch, Frank-Walter Steinmeier als Nachfolger inthronisieren zu können – eine grandiose Fehleinschätzung. Ein Parteichef, der ein Desaster verantwortet und gerade indirekt seinen Rücktritt angekündigt hat, kann gar nichts mehr. Es ist seltsam, dass dem Taktiker Müntefering ein solcher Irrtum unterlief. Und bezeichnend für die fiebrige Stimmung in der SPD.
Während man in Münteferings Landesverband Nordrhein-Westfalen diesen Auftritt nicht kommentieren mochte („Ich betreibe keine politische Leichenfledderei“, sagte etwa ein Linker aus dem Landesvorstand), folgte aus dem Berliner Landesverband ein Gongschlag: Klaus Wowereit, der ewige Kandidat im Hintergrund, verkündete am Montag, dass die Rente mit 67 „keinem Bürger zu vermitteln“ gewesen sei. Die SPD könne nicht nur mit „Zahlen und Statistiken Politik betreiben“, sondern brauche auch „Emotion“. Das war ein Angriff auf Müntefering, der die Rente mit 67 durchgesetzt hatte, und auf den Technokraten Steinmeier, der sich eher auf Zahlen als auf Gefühle versteht.
Für Wowereit, der sich aus der Bundespolitik bislang meist herausgehalten hatte, waren das ungewohnte Töne. Sie klangen wie ein Bewerbungsschreiben für den Job des SPD-Chefs. Wowereits Landesverband veröffentlichte am Dienstagmorgen eine gepfefferte Generalabrechnung mit Steinmeier. Grund für das Wahldesaster seien „die Reformen auf dem Arbeitsmarkt und die Auslandseinsätze der Bundeswehr“ gewesen. Die Agenda 2010 müsse „selbstkritisch analysiert“ werden. Eine Neufang gebe es für die SPD nur ohne die Agenda-Politiker Steinmeier, Steinbrück und Müntefering – eine Kriegserklärung.
Steinmeier indes deutete an, alles hinzuschmeißen, wenn die Agenda 2010 zurückgenommen werde. Die Front war klar: Hier Steinmeier für die Agenda-SPD, dort Wowereit, der deutlich wie nie als Sprecher des linken Flügels auftrat. Rechts gegen links. Der monatelang stillgegelegte Flügelstreit brach plötzlich aus. Oder doch nicht?
Denn so eindeutig waren Wowereits Botschaften nicht. Denn er forderte nicht wirklich die Rücknahme der Rente mit 67 oder gar der Agenda 2010. Auch ob er wirklich SPD-Chef werden will, ließ er offen. Christian Gaebler, parlamentarischer Geschäftsführer der Berliner SPD, sagte am Montag, SPD-Chef sei kein Job, der „vergnügungssteuerpflichtig ist“. Die Botschaft: Wowereit will nur verhindern, dass Steinmeier die Fraktion und die Partei führt – und damit Kanzlerkandidat 2013. Dies, so auch die Einschätzung des Netzwerkers Hans-Peter Bartels, wäre eine Art „Vorentscheidung, dass Steinmeier 2013 SPD-Kanzlerkandidat wird“. Das aber sei derzeit „nicht unser Problem.“
Am Dienstag reifte auch im Steinmeier-Lager die Erkenntnis, dass der Architekt der Agenda 2010 nicht beides, nicht Fraktions- und Parteivorsitzender wird. Denn die Botschaft der gesamten Partei war eindeutig: Rechte wie Johannes Kahrs und moderate Linke wie Karl Lauterbach forderten, Partei- und Fraktionsvorsitz zu trennen. Und keiner machte sich für Steinmeier als SPD-Chef stark. Sogar die Netzwerker, die treu zu Steinmeier stehen, gaben zu verstehen, dass er nur dann Fraktionschef werden könne, wenn er auf den Posten des Parteichefs verzichte.
„Alle zwei Minuten eine neue Nachricht – man blickt kaum mehr durch“, stöhnte am Dienstag ein Mitarbeiter des Willy-Brandt-Hauses. Ob Wowereits Angriff ernst gemeint war, war zu diesem Zeitpunkt unklar. Organisierte sich ein Putsch, der auf die gesamte Agenda-Führung zielte? Oder war das Ganze nur eine Drohgebärde?
Auch im Westen schaute man irritiert auf das Geschehen in Berlin. „Die SPD muss an einem Strang ziehen, sonst wird es düster“, sagte der scheidende Generalsekretär der NRW-SPD, Michael Groschek. Im Mai sind Landtagswahlen. Bei der Bundestagswahl ist die SPD in ihrem früheren Stammland auf 28,5 Prozent abgestürzt. Über den Zwist in Berlin redet man in Düsseldorf „bestenfalls auf dem Flur“, so ein Beisitzer des Landesvorstands. Denn jede Personaldiskussion würde die Zerrissenheit der NRW-Genossen dokumentieren: Linke Basisvertreter wollen Wowereit als Parteichef – SPD-Rechte das auf keinen Fall.
Doch ein linker Durchmarsch ist ohnehin unmöglich. Die neue Bundesfraktion steht etwas weiter links als früher – doch die Netzwerker und der Seeheimer Kreis verfügen noch immer über eine solide Mehrheit.
Am Dienstagnachmittag klärte sich im Bundestag, wie das neue SPD-Personal aussieht: Steinmeier verzichtet auf den Job des Parteichefs. Peer Steinbrück zieht sich aus der ersten Reihe zurück. Nach dieser Erklärung stand er lange auf der Reichstagsterrasse, rauchte und plauderte entspannt mit Brigitte Zypries. Zwei Mächtige von gestern. Auch der Netzwerker Hubertus Heil erklärte, vom Amt des Generalsekretärs zurückzutreten. Das ist in der Flügellogik zwingend. Neben den Rechten Steinmeier und Gabriel muss eine Linke Generalsekretärin werden: Andrea Nahles.
Am Abend wurde Steinmeier auf der Fraktionssitzung mit 126 Jastimmen gegen 16 Neinstimmen zum Nachfolger von Peter Struck als Fraktionschef gewählt. Er freue sich auf seine neue Rolle als Oppositionsführer, sagte er hinterher knapp.
Für den Parteivorsitz verbleiben damit zwei ernsthafte Kandidaten: Klaus Wowereit und Sigmar Gabriel. (Olaf Scholz kam nur als Fraktionschef in Frage, Andrea Nahles gilt als noch zu jung.) Da das Steinmeier-Lager Wowereit irrtümlich für einen Linken hält, scheint Gabriel die besten Aussichten zu haben.
Sicher ist das neue Machtgefüge noch nicht. Nichts ist sicher bei der SPD, die nach dem Beben noch immer zu zittern scheint. Wenn es so kommt, hätte sie sich schnell und rational neu formiert. Ein Mitarbeiter des Willy-Brandt-Hauses mag das kaum glauben: „Das Chaos kommt noch.“ Mitarbeit: Gordon Repinski und Andreas Wyputta