: Mit dem Tandem ins Gedächtnis
Hippen empfiehlt: „Die Welt ist groß und Rettung lauert überall“ von Stephan Komandarev nach dem Debütroman von Ilija Trojanow ist ein entschleunigtes Roadmovie
Von Wilfried Hippen
Solch ein Gedächtnisverlust ist eine praktische Sache. Natürlich nicht in der Wirklichkeit, aber in den erzählerischen Künsten ist er ein so wirkungsvolles Instrument, dass man den Eindruck bekommen kann, es gäbe viel mehr fiktive Amnesiepatienten als reale. Nicht nur der Film noir und seine vielen Nachzügler sind bevölkert mit Protagonisten, die nach einem Schlag, Sturz oder Anfall nicht mehr wissen, wer sie sind. Der Zuschauer oder Leser kann dann mit ihnen zusammen ihr Leben wieder oder neu entdecken. An Struktur und Spannungsbogen braucht man da nicht viel zu basteln, und mit dem Verlust der Identität wird eine Urangst angezapft.
Ein Autor ist also gut beraten, wenn er sich bei seinem Debütroman dieser altbewährten Technik bedient, und genau dies hat auch Ilija Trojanow in seinem 1996 erschienenen „Die Welt ist groß und Rettung lauert überall“ getan. Inzwischen hat er mit „Der Weltensammler“ bewiesen, dass er auch viel verschachtelter und ambitionierter erzählen kann, aber gerade weil sein Erstling so geradeheraus und traditionell daherkommt, eignet er sich gut für eine Verfilmung. Der „Schlag, Sturz oder Anfall“ ist diesmal ein Autounfall, bei dem die Eltern des jungen Bulgaren Alexander umkommen, und er schwer am Kopf verletzt wird. Sein Großvater Bai Dan macht sich aus der beiden Heimatdorf auf, um ihm im fernen „Germania“ beizustehen und langsam seinem Gedächtnis wieder auf die Sprünge zu helfen. Das Schlüsselwort dabei ist „langsam“, denn im hektischen, modernen Deutschland kann der junge Mann nicht in Ruhe zu sich zurückfinden, und so macht sich sein Opa mit ihm zusammen auf zu einer Fahrradtour nach Bulgarien. „Ich bin vorne und der Kopf, du bis hinten und musst treten“, erklärt er ihm zum Beginn der Reise die Hierarchie des Tandems, und natürlich endet der Film damit, dass Alexander schließlich auch an die Lenkstange darf.
Während diese Fahrradtour aus der deutschen Großstadt in die tiefe bulgarische Provinz im Grunde eine Reise zurück in Alexanders Kindheit ist, hat die Erzählung auch einen Strang in die andere Zeitrichtung, denn im Grunde ist der Film eine einzige große Parallelmontage, bei der aus der Erzählzeit immer wieder zu Rückblenden gesprungen wird, in denen chronologisch das bisherige Leben von Alexander beschrieben wird. Am Schluss des Film erinnert der sich also an all das, was der Zuschauer nach und nach erfahren hat. Entscheidend ist dabei, dass es dem Regisseur gelungen ist, eine feine Balance zwischen den Ebenen zu halten. Beide haben einen ähnlichen dramatischen Sog, in beiden wird von Menschen erzählt, die im besten Sinne des Wortes merkwürdig sind und in beiden wird sehr welthaltig erzählt. Auch hier werden schon Welten gesammelt, und es ist ein Glücksfall, dass Komandarev und Trojanow im bulgarischen Sofia geboren sind. So haben beide ein genaues Gespür dafür, wie es sich etwa anfühlt, wenn man als Emigrant aus dem Balkan plötzlich im so effektiven und kalt wirkenden Deutschland ankommt. Und sie können die Zustände im kommunistischen Bulgarien der 70er Jahre aus der Innensicht beschreiben, sodass etwa der Spitzel, der beim Backgammon-Spiel der Alten des Dorfes als einziger alleine am Nebentisch sitzt, zu einem beängstigend glaubwürdigen Charakter wird.
So trifft Komandarev jeden Ton richtig und deshalb kann man den Film auch als ein entschleunigtes Roadmovie genießen. Was kann schon passieren, wenn Bai Dan, der eigentliche Held des Films, zuhause als der „König des Backgammon“ gilt? Das Leben ist ein Spiel – aber das ist schon ein anderer Trick der Weltenerzähler.