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Archiv-Artikel

Frontalunterricht

BILDUNGSOFFENSIVE Die 11. Istanbul Biennale fragt „What Keeps Mankind Alive?“ und wurde zum politischen und sozialen Engagement gegen die Barbarei des Neoliberalismus verpflichtet

Ja, mach nur eine Welterklärung, sei nur ein großes Licht, und mach dann noch ’ne zweite, gehn tun sie beide nicht

VON BRIGITTE WERNEBURG

Wovon lebt der Mensch? Vom Frontalunterricht. Das jedenfalls legt der Rundgang durch die 11. Istanbul Biennale nahe, die sich das Motto „What Keeps Mankind Alive?“ aus Bertolt Brechts Dreigroschenoper entliehen hat. Absolut zeitgemäß inszenieren What, How & for Whom (WHW), das Kuratorinnenkollektiv aus Zagreb, das ihre diesjährige Ausgabe verantwortet, die Biennale als große Bildungsoffensive. Deshalb sehen sich die Besucher durchweg vor Wandkarten, Lehrfilme und Lehrsammlungen gestellt, deshalb drängen sie sich alle naselang in irgendwelche Schulbänke, um etwa im ehemaligen Tabaklager, einem der drei Standorte, dann auch gleich Hausaufgaben zu machen.

Auf fünf Fragen erwarten die Lehrerinnen Ivet Curlin, Ana Dević, Nataša Ilić und Sabina Sabolović Antworten: „1. Glauben Sie, dass ein solcher Event für das Publikum politisch aufschlussreich ist?“, wollen WHW wissen, „2. Meinen Sie, dass es für die Künstlerin oder den Künstler politisch lehrreich ist?“ und „3. Welcher der Lektionen, die „What Keeps Mankind Alive“ bereithält, widersprechen Sie politisch?“

Bilder vom Weltgericht

Wider den Hochmut, Lektionen zu erteilen, argumentiert immerhin gleich zum Auftakt der Kunstausstellung im Antrepo Nr. 3, dem traditionellen Veranstaltungsort am Bosporus, Canan Șenols Video „Fountain“. Denn es ist gewiss nicht die Milch der frommen Denkungsart à la WHW, die dort aus zwei skandalträchtig vor einem schwarzen Hintergrund hängenden Brüsten tropft. Schließlich rührt die Infamie dieser großartigen feministischen Replik auf zwei berühmte Arbeiten, die den Künstler als Quell der Schöpfung beschwören, nämlich Marcel Duchamps Urinal und Bruce Naumans „Self-Portrait as a Fountain“, aus einem raffinierten selbstreferentiellen Rückgriff auf die Kunstgeschichte her.

Der Brunnen der 1970 in Istanbul geborenen Künstlerin erinnert an das traditionsreiche (vor)christliche Motiv der Maria lactans, das in der Ikonografie des Weltgerichts eine wichtige Rolle spielt, wo Maria dem richtenden Sohn ihre freie Brust zeigt, um ihn für die Gruppe der Sünder daran zu erinnern, dass auch er einst gestillt wurde.

Und ein Weltgericht halten WHW weiß Gott ab, angesichts einer Zukunft, in der ihr „Sozialismus oder Barbarei“ überschriebenes Monumentalgemälde das Bild „verarmter Kriegszonen“ auf der einen Seite und „stabiler faschistoider Systeme in den reichen Zonen“ auf der anderen zeigt. WHW beobachten einen „dekadenten Kunstbetrieb“, in dem die Institution der Biennale zum Marketingwerkzeug für den globalen Kulturtourismus verkommt. Dagegen stellen sie die Erneuerung kritischen Denkens und den – nun mit Walter Benjamin geführten – Widerstand gegen die Ästhetisierung der Politik. Ihr Programm für die 11. Istanbul Biennale heißt denn auch „Politisierung der Kultur“.

In ihrer eisernen Selbstgerechtigkeit sind also Ivet Curlin, Ana Dević, Nataša Ilić und Sabina Sabolović so wenig zu schlagen wie in ihrer besserwisserischen Gnadenlosigkeit. Aber auf diese Weise gelangen sie zu einem bemerkenswert konsistenten Ausstellungsprogramm, das in seiner Geradlinigkeit beeindruckt. Die Mehrzahl der insgesamt 141 Arbeiten von 70 Künstlern und Künstlerinnen aus 40 verschiedenen Ländern ist das Ergebnis gewissenhafter Recherche und engagierter und sorgfältiger Ausarbeitung. Fallen nur wenige Arbeiten als ästhetisch interessant, ideenreich umgesetzt, formal neu oder als gegen die Wahrnehmungsgewohnheiten gerichtet auf, so ist dafür auch kaum eine Arbeit als nur plump-plakativ zu bezeichnen. Selbst bei Hans-Peter Feldmann, der reichlich schlicht argumentiert, wenn er eine Scheibe Brot auf den Sockel legt, von der er das weiche Innere herausgeklaubt und die harte, trockene Rinde übrig gelassen hat, wird diese Geste noch durch die böse Komik der kargen Skulptur gestützt. Ärgerlich ist dann allerdings „Territory“ von Marko Peljhan, dem seine Recherche über das Massaker in Srebrenica im Juli 1995 zur faden akademischen Übung gerät. Denn entgegen dem Versprechen, „alternative Kommunikationswege und -technologien“ zu entwickeln, vermitteln der in einem schwarzen, schalldichten Raum vielfach gestaffelte, transparente Vorhang, der Truppenbewegungen und Überflugrechte dokumentiert und der aufgezeichnete Funkverkehr – nichts. Der Funkverkehr bleibt – weil unverständlich – reine Soundtapete, und die Charts sind Deko, weil nicht wirklich greifbar.

Anders die Installation von Zaina Maasri, Architekturprofessorin an der American University in Beirut. Maasri hat die politischen Plakate aus dem Libanesischen Bürgerkrieg von 1975 bis 1990 gesammelt und getrennt nach Partei (Libanesische Front, Libanesische Kommunistische Partei, Libanesische Nationalbewegung etc.) chronologisch angeordnet. Dabei fällt besonders die Hisbollah auf, deren Plakate immer poppiger und deren Führer immer mehr zu langwimprigen Bollywood-Stars werden und von denen ein reichlich effeminierter Chomeini wie eine Marienerscheinung aus den Wolken herablächelt. Müsste das WHW nicht zu denken geben über den nicht einfach nur antagonistisch organisierten Zusammenhang von Politik und Konsum?

Dennoch berichten die Künstler aus dem Nahen Osten, die noch vor den Osteuropäern die größte Zahl der Biennale-Teilnehmer stellen, zu Recht kaum von politischer Verführung als vielmehr vom Druck der Gewaltverhältnisse: leise wie Hrair Sakissian, der eine Reihe von wenig aufsehenerregenden Plätzen in den syrischen Städten Aleppo, Lattakia und Damaskus fotografiert hat, bei denen es sich aber um „Execution Squares“ handelt, wie er seine Serie großformatiger Farbfotografien denn auch betitelt; eindringlich wie Mohammed Ossama, der, 1954 geboren, noch am Gerasimov Institute of Cinematography in Moskau studiert hat und dessen Abschlussfilm „Step by Step“(1979) nicht das schöne syrische Landleben besingt, wie man meinen könnte, sondern die Chancenlosigkeit der zwischen Religion und Ideologie eingeklemmten Dorfkinder beklagt. Bestürzend die Rolle der ehrenhaften Mütter, die sich gegen ihre Kinder auf die Seite der Autoritäten von Religion und Partei stellen. Wie Brecht schon in der Dreigroschenoper so ungefähr sagte: Ja, mach nur eine Welterklärung, sei nur ein großes Licht, und mach dann noch ’ne zweite Welterklärung, gehn tun sie beide nicht. Die nichtwestlichen Künstler und Künstlerinnen jedenfalls wissen einiges über stabile faschistoide Systeme in verarmten Kriegszonen zu berichten.

Frische bewahrt

Interessant ist aber zu beobachten, wie gerade viele der gezeigten Arbeiten aus den 1970er-Jahren die Frische des rebellischen Aufbruchs bewahrt haben, den sie einmal bedeuteten. Das gilt für Sanja Iveković’ feministische „Paper Women“ (1976/77) wie für KP Brehmers (1938–98) popkulturelle Volkspädagogik, etwa „Realkapital – Produktion“, eine Vorreiterarbeit von 1974 für die politische Kartografie in der zeitgenössischen Kunst heute.

Ein vergleichbar ästhetisch anregender, weil bewusst spielerischer Ansatz ist aktuell bei den eher unterschwellig politisch argumentierenden Arbeiten von Vlatka Horvat und Nevin Aladag zu finden. Vlatka Horvat schneidet und knickt in „For Example“ den noch immer politisch, religiös oder sozial unpassenden weiblichen Körper aus einer Reihe von Fotografien so heraus, dass er auf eine kritische, weil verrückte Weise exemplarisch wird. Die Erfahrung von Differenz und Anderssein erforscht auch die 1972 in Van geborene, heute in Berlin lebende Künstlerin Nevin Aladag, in ihrer dreiteiligen Arbeit „City Language“ auf ausgesprochen subtile Weise. Einmal gehören die beiden Hände, die klatschen, nicht der gleichen Person, das andere Mal sprengt die fragmentarische Rückansicht im Autospiegel das Frontscheibenpanorama von Istanbul, und das dritte Mal spielt der Wind in der allenthalben fremd herbeiwehenden Musik der Großstadt die Flöte, lassen die Meereswellen das Tamburin rasseln, und die Tauben picken die Mandoline. Es ist das einzige Mal, dass man auf der Biennale gewahr wird, dass Welt nicht nur von Menschen, sondern auch von Tieren bevölkert ist. Aber wie Hüseyin Bahri Alptekin auf seiner blinkenden Leuchttafel im Antrepo Nr. 3 vermerkt hat: „Don’t Complain“. Nein, tun wir nicht. Denn die freimütige Art, in der die Kuratorinnen der Kunst den Auftrag zur Agitation erteilen, imponiert dann doch.

■ Bis 8. November, www.iksv.org, Textbuch 35 Lira