berliner szenen: Freizeitpark der Urbanität
Nach Monaten auf dem Dorf irgendwo in der mecklenburgischen Tiefstebene bin ich wieder in Berlin mit dem Rad unterwegs. Ich schaue die Stadt an wie ein Artefakt aus der Römerzeit. So jung sind die Menschen hier, so modebewusst und so schlank. Ich sehe: Trauben von Teens und knutschende Mittzwanziger, frech ins Leben grinsende Wegebierlagerer und im Park lässig lagerndes Jungvolk mit pumpender Tischhupe.
Im Görli vertickt ein Selbstständiger einem schon angetagten Autochthonen einen Sniff. Auf dem Kanal treiben Müßiggänger im Plastikboot. Auf den Bouleplätzen herrscht schon zu Mittag Hochbetrieb. Die Kugeln fliegen in hohem Bogen durch die zähwarme Luft. Später sehe ich in den Schluchten von Mitte zwei Typen mit einem jumpsuitartigen Sommeranzug und denke mir: Wow, in Speck-Pomm würde man nach Anblick solcher Exaltiertheit sicherlich einen bürgerpolizeilichen Einsatztrupp zusammenstellen; in Coronazeiten hat die Observation und Aussonderung von Fremdsubjekten ja schon wunderbar funktioniert.
Auf dem Dorf trägt man Jogginghose, Blaukittel oder Klamotten aus der Kollektion von Engelbert Strauss. In Berlin sehe ich endlich wieder Muskelshirts und Tote-Bags, Bauchfrei-Mädchen und Dutt-Jungs. Hier überholen mich junge Radler auf Single-Speed-Mühlen und nicht nur Rentner auf nagelneuen Elektrobikes. Es braucht Zeit, bis ich mich an den Trubel gewöhne. Die Stadt knallt rein, ist laut, voll und zudringlich. Sie trifft mich hart, aber ich bin auch froh, dieses Panoptikum zu bestaunen. Ich radle wie durch einen schrägen Freizeitpark der Urbanität. Die Intensität der Eindrücke wird in einigen Tagen abklingen, aber noch taumle ich durch die Straßen wie ein angeditschtes Landei, um bald wieder betriebsblind zu werden für die Schrullen der Großstädter. Markus Völker
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