piwik no script img

Archiv-Artikel

Keine Käsehäppchen mehr

EU-Vertrag? In der irischen Provinz beschäftigt die Menschen der rapide Absturz der Wirtschaft sehr viel mehr

Irland stimmt ab

■ Heute stimmen die Iren zum zweiten Mal über den Lissabon-Vertrag ab. Nachdem im vergangenen Jahr bei der von der irischen Verfassung vorgesehenen Volksabstimmung der EU-Grundlagenvertrag abgelehnt wurde, rechnet man nach jüngsten Umfragen dieses Mal mit einer Zustimmung. 55 Prozent der Wahlberechtigten wollen dem Vertrag zustimmen, 27 Prozent ablehnen. Allerdings sind 18 Prozent noch unentschlossen. Mit dem Ergebnis wird für Samstagnachmittag gerechnet.

AUS DUBLIN RALF SOTSCHECK

Rechts der Atlantik, links der Burren. Auf den ersten Blick sieht das Gebiet in der Grafschaft Clare an der irischen Westküste wie eine Mondlandschaft aus: graue Steinhügel und helle Kalksteinplatten, so weit das Auge reicht. In einer scharfen Kurve steht am Straßenrand ein großes Blechschild, auf dem ein Wasserversorgungsprojekt für die Ortschaft Lisdoonvarna angekündigt wird. Darunter, in Englisch und Irisch, wird der Europäischen Union für die Finanzierung gedankt. Jemand hat mit schwarzer Farbe auf weißem Grund darüber geschrieben: „Lissabon 2: Dieselbe Frage, dieselbe Antwort.“

Voriges Jahr, beim ersten Referendum über den EU-Reformvertrag von Lissabon, haben die Iren Nein gesagt. Sie waren die Einzigen, die darüber abstimmen durften, weil es ihre Verfassung vorschreibt. Am Freitag müssen sie erneut an die Wahlurne. „Diesmal werden sie den Vertrag absegnen“, glaubt Pat McNamara, ein kräftiger 48-Jähriger mit dichten schwarzen Haaren. Er ist Bauer in Fanore, einem langgezogenen Dorf an der Atlantikküste. „Die Regierung versucht, die Ablehnung des Lissabon-Vertrags mit der tiefsten Rezession seit 40 Jahren in Verbindung zu bringen. Das scheint zu funktionieren, die Ja-Seite liegt vorne. Die Leute glauben, wenn wir den Vertrag annehmen, geht es schlagartig bergauf.“

700 Euro pro Kalb

McNamara besitzt 17 Kühe und einen Stier. Die Kälber zieht er ein Jahr lang auf, dann verkauft er sie. „Ich bekomme 600 bis 700 Euro pro Tier“, sagt er. „Davon kann man kaum leben, denn die Futterkosten und Impfungen verschlingen einen Großteil davon. Wir Teilzeitbauern sind besonders stark betroffen von der Rezession.“

In Irland leben 40 Prozent der Bevölkerung auf dem Land, mehr als in anderen EU-Ländern. Doch die ländlichen Gebiete sind benachteiligt, die Schere ist während des Wirtschaftsbooms der vergangenen 15 Jahre weiter aufgegangen. In der Hauptstadt Dublin liegt das durchschnittliche Einkommen 12 Prozent über dem Landesdurchschnitt, auf dem Land liegt es 8 bis 10 Prozent darunter.

„Und es wird immer schlimmer“, sagt McNamara. „Der Staat steht vor dem Bankrott und streicht reihenweise Zuschüsse – für die Aufforstung, die Beseitigung von Agrarabfällen, die Verbesserung der Kälberproduktion. Vor allem die Kürzungen des Umweltprogramms, das eine umweltfreundliche landwirtschaftliche Produktion garantieren sollte, macht nicht nur die Errungenschaften zunichte, sondern bedeutet eine Einkommenskürzung von 40 bis 50 Prozent. Wen interessiert da noch der Lissabon-Vertrag? Er wird an den Kürzungen nichts ändern.“

Noch vor 15 Jahren hat die Landwirtschaft 54 Prozent der Lebenshaltungskosten einer Bauernfamilie gedeckt, heute sind es nur noch 34 Prozent. Deshalb müssen die meisten Bauern oder ihre Ehefrauen eine Arbeit außerhalb des Hofes annehmen, um zu überleben. „Die Bauern arbeiten vor allem in der Nahrungsmittelverarbeitung oder auf dem Bau“, heißt es in einem Bericht des Dubliner Trinity College. „Das sind die Bereiche, die am stärksten von der Rezession betroffen sind.“

Pats Frau Gill Gregory betreibt seit zehn Jahren die „Tea Junction“, ein kleines Café in Ballyvaughan. Der Raum ist recht klein, außer der Theke passen noch fünf Resopaltische hinein. Bei schönem Wetter stellt sie zwei Tischchen vor die Tür. Jetzt, um drei Uhr nachmittags, ist der Laden leer. Das sei inzwischen normal, sagt sie. Deshalb gibt sie das Café Ende Oktober auf.

„Seit 2006 ging es nur noch bergab“, sagt die 52-Jährige. „Die Leute geben immer weniger Geld aus. Neulich kamen vier US-amerikanische Touristen und haben sich zusammen einen Teller Suppe geteilt, drei Engländer bestellten ein kleines Kännchen Tee.“ In vielen Läden mussten sie sogar die Kostproben abschaffen, erzählt Gregory. „Eine Käserei hatte stets einen Teller mit Käsestückchen zum Probieren auf dem Tresen. Die Leute haben sich das Zeug eingepackt und mit nach Hause genommen, ohne etwas zu kaufen. Auf diese Art gingen zwei Kilo Käse in der Woche weg.“

Dass die Regierung den Aufschwung verspricht, wenn der Lissabon-Vertrag abgesegnet wird, hält sie für Propaganda: „Woher soll der Aufschwung denn kommen? Die Gegend lebt vom Tourismus. Aber die Touristen kommen nicht mehr.“ Dabei gehört der Burren und seine Küste zu dem Schönsten, was die Grüne Insel zu bieten hat. Der erste Blick auf die Steinlandschaft täuscht nämlich: In dem tausend Quadratkilometer großen Gebiet wachsen Pflanzen aus dem Mittelmeerraum, aus den Alpen und der Arktis einträchtig nebeneinander. Ein Phänomen sind die Senken, die im Winter von unterirdischen Quellen überflutet werden und im Sommer austrocknen.

Doch in diesem Sommer kamen rund 15 Prozent weniger ausländische Gäste auf die Insel als im vorigen Jahr. Vor allem die Briten und US-Amerikaner bleiben fern, weil sie sich einen Irland-Urlaub aufgrund des schlechten Wechselkurses von Pfund und Dollar nicht leisten können. Irland ist ein teures Land, das teuerste in der Eurozone.

„Selbst die Schweizer jammern über die Preise“, sagt Gregory. „Das sagt doch alles.“ Rund 300.000 Menschen leben in Irland vom Tourismus, er bringt dem Land 6 Milliarden Euro im Jahr ein. 2007 überschritt die Zahl der Besucher zum ersten Mal die Acht-Millionen-Marke. Dann kam der Einbruch. Voriges Jahr sind 25.000 Jobs in der Tourismusindustrie verloren gegangen, schätzt Shaun Quinn von der irischen Fremdenverkehrszentrale.

Keine Bauarbeiter

„Mich trifft die Rezession doppelt“, sagt Gregory. „Im Sommer kam ich wegen der Touristen mit meinem Café über die Runden, im Winter wegen der Bauarbeiter. Sie kamen in ihren Pausen sogar aus den Nachbarorten, oft nicht nur zum zweiten Frühstück, sondern auch zum Lunch. Heute kommt keiner mehr. Es gibt keine Bauarbeiter mehr.“

In Irland wurden in manchen Boomjahren 90.000 neue Häuser gebaut. Die Bauindustrie steuerte 2007 ein Viertel des Bruttoinlandsproduktes bei, sie beschäftigte mehr als zehn Prozent aller Erwerbstätigen. Seitdem ist sie fast komplett zusammengebrochen, und mit ihr die Hauspreise.

„Viele glaubten, dass die Wirtschaft immer weiter wachsen würde, indem wir uns gegenseitig Häuser verkaufen“, sagt Pat McNamara. In Irland stiegen die Hauspreise binnen acht Jahren um 300 Prozent, obwohl es ein Überangebot gab. Nach Schätzungen der Regierung stehen fast 300.000 Häuser leer. Die Zahl der Wiederinbesitznahmen durch Banken hat sich 2008 gegenüber 2007 verdoppelt, weil die Leute die Hypotheken nicht mehr bezahlen können.

Täglich verlieren mehr als 300 Menschen ihren Job. In Ennis, der Hauptstadt der Grafschaft Clare, aus der Muhammad Alis Urgroßvater in die USA auswanderte, wurde vor kurzem ein McDonald’s eröffnet. Geschäftsführer Kieran McDermott sagt, er habe Hunderte von Bewerbungen bekommen, darunter erstaunlich viele Bankangestellte, Buchhalter und Architekten. „Das Schild mit den Jobangeboten musste ich nach einem Tag wieder abnehmen“, sagt er.

Die Rezession hat eine Abwärtsspirale in Gang gesetzt, deren Folgen vor allem auf dem Land zu spüren sind. „Täglich macht eine Kneipe in Irland dicht“, sagt McNamara. „Aber die Pubs sind ja nicht nur zum Trinken da, sondern sie sind gerade auf dem Land wichtig für den sozialen Zusammenhalt.“

Eine Folge des wirtschaftlichen Zusammenbruchs ist der steigende Heroinkonsum. Auf dem Land hat sich die Zahl der Heroinabhängigen in diesem Jahr vervierfacht. „Viele fliehen wegen Obdachlosigkeit und Hoffnungslosigkeit in die Drogen“, sagt Tony Geoghegan von der Beratungsstelle für Obdachlose und Drogensüchtige. „Während der Wirtschaftskrise der Achtzigerjahre wurden Dublins Arbeiterviertel mit Heroin überschwemmt, jetzt sind es die Dörfer und Kleinstädte.“

Schlimmer als in den 80ern

Vieles erinnert an die Achtzigerjahre, als Irland das Armenhaus Europas war. Doch es sei diesmal schlimmer, meint der Bezirksverordnete Shane McEntee: „Damals steckte der Staat bis zum Hals in Schulden. Heute ist auch die Bevölkerung stark verschuldet.“ Und diesmal gibt es nicht das Ventil der Auswanderung, das Irland jahrhundertelang vor dem Zusammenbruch bewahrt hat.

Die jüngere Generation könne sich diese Zeiten kaum vorstellen, meint McNamara. „Sie sind mit dem Boom aufgewachsen und glaubten, es werde so weitergehen“, sagt er. „Das Einzige, was jetzt noch boomt, ist der Markt für Gemüsesamen. Wo früher Blumen wuchsen, bauen die Menschen jetzt Kartoffeln, Mohrrüben, Zwiebeln und Kohlköpfe an. Und sie kaufen in Billigläden wie Aldi und Lidl ein – auch Leute, die vor einem Jahr noch die Nase darüber gerümpft haben.“

Die Rezession sei das Thema, über das alle sprechen, nicht der Vertrag von Lissabon, denn der werde daran nichts ändern, sagt seine Frau Gill Gregory: „Ob der Vertrag angenommen oder abgelehnt wird, spielt keine Rolle. Für Irland nicht und für Europa auch nicht.“