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Archiv-Artikel

Obama muss sich beeilen40.000 mehr?

Seine Anhänger erwarten einen Durchbruch bei der Einführung einer allgemeinen Krankenversicherung. Der Rest der Welt drängt auf drastische Maßnahmen in der Klimapolitik. Und er selbst hat sich vorgenommen, den Irakkrieg zu beenden und in Afghanistan militärisch erfolgreich zu sein. Jetzt geraten alle drei Ziele in Gefahr. Noch vor Ende seines ersten Jahres im Amt droht Barack Obama zu scheiternAFGHANISTAN Der US-Armeechef McChrystal drängt auf eine schnelle Erhöhung der Truppenstärke

Dass Obama das Klimaschutzgesetz mit nach Kopenhagen bringt, gilt als unwahrscheinlich

Truppenabzug aus Irak, Truppenaufstockung in Afghanistan – diese Linie hatte Barack Obama schon vor seiner Wahl vorgegeben. Jedenfalls mit dem ersten Teil des Plans geht es voran. Doch noch hat Obama nicht entschieden, ob er so viele zusätzliche Soldaten nach Afghanistan entsenden will, wie vom Kommandeur der US-Truppen in Afghanistan, Stanley McChrystal, erwünscht. In einem fensterlosen, abhörsicheren Kellerraum des Weißen Hauses kam Obama deshalb am Mittwoch mit seinem Vize Joe Biden, Verteidigungsminister Robert Gates, Außenministerin Hillary Clinton und einer Gruppe hochkarätiger Militärs, Diplomaten und Geheimdienstmitarbeiter zu Beratungen zusammen. Aus Kabul war McChrystal zugeschaltet.

Er hatte vor wenigen Tagen gewarnt, der Krieg sei mit der bisherigen Truppenstärke nicht zu gewinnen. In den Medien geistert seither die Zahl 40.000 herum, mit denen McChrystal die bislang 65.000 amerikanischen Soldaten am Hindukusch verstärken will.

Die derzeitige Situation in Afghanistan wird immer problematischer: Die Kämpfe beschränken sich nicht mehr auf den Süden und Osten des Landes. Die Zahl der getöteten Isaf- und US-Soldaten nimmt kontinuierlich zu, und einem UN-Bericht zufolge starben in Afghanistan im August mehr Zivilisten als in jedem anderen Monat des Jahres. Insgesamt seien 2009 schon 1.500 Unbeteiligte dem Konflikt zum Opfer gefallen.

McChrystal will sich im Rahmen der vor sechs Monaten beschlossenen Afghanistanstrategie stärker darauf konzentrieren, die Bevölkerung zu beschützen, als die Taliban zu bekämpfen und gleichzeitig mehr lokale Armee- und Polizeikräfte auszubilden. Dafür will er mehr Soldaten.

Obamas Berater sind darüber geteilter Meinung. Während ihn die Militärs wie US-Generalstabschef Mike Mullen unterstützen, ist etwa Vizepräsident Biden ganz anderer Meinung. Er will sich künftig weniger auf die Bekämpfung der Taliban konzentrieren und dafür mehr auf das Entwurzeln der Terrorzellen von al-Qaida. Demzufolge müsste der Schwerpunkt der US-Operation von Afghanistan nach Pakistan verlagert werden.

Obama will sich mit einer Entscheidung über eine Truppenverstärkung mehrere Wochen Zeit lassen. Insgesamt will er fünf Beratertreffen einberufen. Sollte Obama McChrystals Forderung entsprechen, müsste er dies eventuell mit den Stimmen der Republikaner durchsetzen, da viele Demokraten nicht mitziehen wollen. Außerdem stellt sich die Frage, woher die Soldaten kommen sollen. Die optimistischen Nachrichten über einen raschen Rückzug aus dem Irak kommen Armeechef McChrystal dann wie gerufen. Die abgezogenen Soldaten könnten direkt weiterreisen. Zum Unmut der amerikanischen Bevölkerung, die den Krieg in Afghanistan immer mehr ablehnt.

ANTJE PASSENHEIM

Übers Ziel hinaus

KLIMAPOLITIK Die Demokraten haben im Senat einen mutigen Entwurf für ein Klimagesetz vorgelegt

Gut zwei Monate vor dem UN-Klimagipfel in Kopenhagen haben die Demokraten im US-Senat einen Vorstoß zum Klimaschutz gemacht. Ein am Mittwoch eingebrachter Teil eines Gesetzentwurfs sieht vor, den Ausstoß von Treibhausgasen bis zum Jahr 2020 um 20 Prozent unter das Niveau von 2005 zu drücken. Damit übertrafen die Senatoren den verabschiedeten Entwurf zum selben Gesetz im Repräsentantenhaus. Er peilte lediglich eine Verringerung der Emissionen um 17 Prozent an.

„Unsere Gesundheit, unsere Sicherheit, unsere Wirtschaft und Umwelt verlangen, dass wir die amerikanische Art und Weise der Energienutzung neu erfinden“, sagte Expräsidentschaftskandidat und Senator John Kerry aus Massachusetts, der den Entwurf mit eingebracht hat. Dieser muss nun fünf weitere Ausschüsse des Senats passieren.

Das geplante Klimagesetz ist für amerikanische Verhältnisse geradezu revolutionär. Es soll – im Vergleich zu 2005 – die CO2-Emissionen bis 2020 um 17 beziehungsweise 20 Prozent reduzieren und bis zur Mitte des Jahrhunderts sogar um 83 Prozent. Für diesen Zweck soll ein Handel mit Emissionsrechten eingeführt werden, ähnlich dem in der EU. Im Juni hatte der Entwurf mit hauchdünner Mehrheit das Repräsentantenhaus passiert. Im Senat wird es schwieriger. Der Widerstand unter den Senatoren ist groß. Nicht nur bei den Republikanern, sondern auch unter konservativen Demokraten, den sogenannten blue dogs. Die blauen Hunde, die sich gegen das Klimaschutzgesetz stellen, vertreten vor allem Kohlestaaten und ehemalige Republikanerhochburgen wie Virginia.

„Das Gesetz durch den Senat zu bekommen wäre ohnehin nicht leicht. Aber jetzt, da der Senat derart von der Gesundheitsdebatte gefangen ist, wird es das erst recht nicht“, sagt Eilen Claussen, die Präsidentin des Thinktanks PEW-Center on Global Climate Change in Washington. Die zermürbende Diskussion um die Krankenversicherung, die schlimmste Rezession seit dem Zweiten Weltkrieg, das ungelöste Guantánamo-Problem, das Desaster in Afghanistan und die Atomanlagen im Iran – die Baustellen überlagern den Umweltschutz.

Dass Präsident Barack Obama im Dezember das Klimaschutzgesetz mit nach Kopenhagen bringt, gilt als unwahrscheinlich. Viele Politiker fänden das kontraproduktiv, meint Arne Jungjohann, Umweltexperte der Heinrich Böll Stiftung in Washington. „Ein fertiges Gesetz mit Grenzwerten im Gepäck würde den Präsidenten zum Postboten machen und seinen Verhandlungsspielraum in Kopenhagen mindern.“ Was nicht heißt, dass Obama auf internationaler Bühne im anderen Fall über das US-Gesetz hinausschießt. Arne Jungjohann: „Er wird tunlichst vermeiden, dass es ihm so ergeht wie Bill Clinton, der dem Kyoto-Protokoll zustimmte und dann im US-Senat keine Mehrheit dafür bekam.“

ANTJE PASSENHEIM

Kompromissbereit

GESUNDHEIT Der Widerstand kommt aus den eigenen Reihen: Die Gesundheitsreform stagniert

Dem Präsidenten droht dramatischer Ansehensverlust, sollte bis Jahresende kein Reformprojekt gelingen

Auf dem direkten Weg in die Sackgasse ist die von US-Präsident Barack Obama zu seinem wichtigsten innenpolitischen Vorhaben erklärte Reform des Gesundheitswesens. Fünf Monate nach Beginn der Reformdebatte droht sein Vorhaben am beharrlichen Widerstand derjenigen zu scheitern, die ein staatlich organisiertes und gemanagtes Gesundheitssystem schlicht für unamerikanisch oder gar gleich für Sozialismus halten. Dabei macht nicht nur die Opposition der Republikaner schlechte Stimmung. Vielmehr sind es die konservativen Parteigenossen, die Obamas Vorhaben zu Fall zu bringen drohen.

Dabei gilt das US-Gesundheitswesen als das teuerste der Welt, mit ausgedehnten Bereichen eklatanter Uneffektivität. Obama will mit seinem Vorstoß das Gesundheitswesen wieder funktionsfähig und bezahlbarer machen. Zudem erklärte er, 46 Millionen unversicherte US-Bürger in den Zustand versetzen zu wollen, Krankheit nicht als wirtschaftlichen Ruin fürchten zu müssen.

Nach der turbulenten Sommerpause, in der Obamas Gegner kräftig gegen seine Reformideen mobilmachten, hatte der Präsident aufgrund strategischer Fehler deutlich an Souveränität verloren. Seit Anfang September bemüht sich Obama vehement, die US-Öffentlichkeit zurückzugewinnen. In wahlkampfartigen Auftritten reist er kreuz und quer durchs Land, um klarzumachen, welche historische Chance und Aufgabe es zu erfüllen gilt.

Seit Tagen sind Obamas Mitarbeiter nun dabei, die letzten Retuschen an einer dringend benötigten neuen Strategie vorzunehmen. Der Präsident will ab kommender Woche klarer formulieren, was in seinem Reformgesetz drinstehen soll. Am Mittwoch soll Obama erneut vor beiden Häusern des Kongresses sprechen.

Gerangelt wird vor allem um die philosophischen Grundlagen einer gerechteren Versicherung. Während der linke Flügel der Demokraten auf der sogenannten public option, also der staatlichen Verwaltung einer Versicherung für Geringverdienende besteht, können sich konservative Demokraten nur zu einer Reform durchringen, die rein marktwirtschaftliche, sprich private Mechanismen hat. Obama ließ vor einem Monat durchblicken, dass er die Reform unideologisch angehen will – und notfalls auch auf das staatliche Engagement verzichten könnte.

Mit dieser Kompromissbereitschaft droht Obama weite Teile seiner progressiven Anhängerschaft zu vergrätzen. Doch dem Präsidenten, der in politisch ausgesprochen schwierigen Zeiten als Außenseiter ins Amt gewählt wurde, droht dramatischer Ansehensverlust, sollte bis zum Jahresende keines seiner angegangenen Reformprojekte gelingen. Dazu gehören neben der Gesundheits- und Klimapolitik die Beendigung der Kriege im Irak und in Afghanistan, die Reform des US-Bildungssystems sowie die Neuregulierung des Finanzmarkts. ADRIENNE WOLTERSDORF