Komplizierter Profit aus der Wochenschau

Kino der Kindheit (2): Im Kino in Zittau konnte man selbst 1944 einiges lernen, zum Beispiel, nie ohne Stadtpläne und Landkarten zu verreisen. Aber auch, wie sich Varieté-Kunst später zu blutigen Performances transformieren ließ

1953, Zürich, ein großes Kino, voll. Ich saß ganz vorn, Mitte. Der Film sollte beginnen. Tat er aber nicht. Stattdessen stellte jemand ein Mikro vor den Vorhang. Irres Licht knallte auf den Spalt. Und dann stand sie in einer Wahnsinnspose davor, vor mir, und sang das „Oh mein Papà“. Gehört hatte ich das im NWDR, aber dass ich mir zu dieser Stimme auch ein Bild machen konnte und dass es dazu einen Namen gab, das war neu. Eine Erleuchtung. Im Kino, intim. Sah sie mich an? Ich jedenfalls sie.

Ich fühlte, wir waren allein, ich zwanzig und sie keine dreißig, aber so genau hab ich das erst 52 Jahre später bei Google nachgekuckt. Auch sprach man damals nicht von Glamour und Event. Lys Assia war mein erstes glanzvolles Kinoerlebnis gewesen, mein ganz persönliches, und sie sah überhaupt nicht unnahbar aus, eher freundlich, ansprechbar, und sie hatte einen langen engen Rock an. Darunter waren Beine. Seit meinem Tête-à-tête mit Lys Assia glaube ich an das Kinoevent. Den Film, den ich in Zürich sehen wollte und sah, hab ich vergessen. Sie kam darin mitnichten vor. Sie war das Kino gewesen.

Filmerlebnisse hatte ich längst gehabt. Die zwei größten habe ich einem Lichtspieltheater in Zittau zu verdanken. 1944. Ich war elf und sah: “… reitet für Deutschland“ und vorher eine Wochenschau. Dass der Spielfilm von 1941 war, der Regisseur Arthur Maria Rabenalt hieß und der Schauspieler Willy Birgel – all das erinnere ich nicht. Aber dass der Reiter im Welschland die falsche Richtung nimmt, weil der Erbfeind den Wegweiser verdreht – das anzusehen, wurde mir zur Urerfahrung. Mir das Schicksal der verdrehten Richtung zu ersparen, nehme ich noch heute Landkarten und Stadtpläne mit auf Reisen. Was Willy Birgel in Frankreich passierte, ist mir eine Lehre. „… reitet für Deutschland“ ist in mir gespeichert.

Für die Kontinuität der Filmgeschichte ist mein Zittauer Wochenschauerlebnis von größerem Wert. Mit glühenden Augen nahm ich den Kulturbericht wahr. Der Varieté-Künstler griff in eine Schale mit Weingläsern und Glühbirnen und biss genüsslich ins Glas, knackte mit den Zähnen die Glühbirne, kaute und schluckte. Dieses Al-dente-Erlebnis war so stark, dass ich es später selbst in die Tat umsetzen wollte. Das muss in den Siebzigerjahren gewesen sein. Ich drehte aus der Lampe überm Kneipentisch die Glühbirne raus. Taschentuch. Heiß! Und dann sacht reingebissen und den Unterdruck beachtet. Warm lief mir etwas aus dem Mund. Allerdings sahen mich die Leute mit Ekel und Entsetzen an. Was runtertropfte, war rot. Im Klo fand ich Papier, das Zeugs abzutrocknen. Es blutete weiter. Mit einem Wort: Der erste Versuch, von meinen Kinoerfahrungen der Nazizeit zu profitieren, war gescheitert. Aber ich gab nicht auf.

1988, in der Filmhauskneipe in Hamburg-Altona, beschränkte ich mich auf das Weinglas. Thomas Mauch, der Kameramann, sagte: „Guten Tag, ich drehe grade mit Klaus Bueb zusammen, und machst du die Nummer bei uns?“ Ich kam zu meinem ersten und einzigen Stuntvertrag, für „Adrian und die Römer“. Jetzt ist das, was ich in der Zittauer Naziwochenschau gesehen hatte, in einem schönen und wertvollen Spielfilm gespeichert, wobei ich als Transmitter gedient habe.

Die Neurotransmitter, so las ich zehn weitere Jahre später in den Dialogen, die Bernhard Pörksen mit Heinz von Foerster geführt hat, müssen allerdings fristgerecht aktiviert werden, weil die Hirnzellen, die Erinnerung speichern, sich im Siebenjahresrhythmus entleeren. Ich empfehle daher, sich stets zu rechter Zeit an erste Kino- und Filmerlebnisse zu erinnern beziehungsweise an die Erinnerung zu erinnern. Also besser eine Frist nehmen. Bitte notieren: Nächster Termin 2012.

DIETRICH KUHLBRODT