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Archiv-Artikel

Glaubenssache Nebenkosten

Nur wenn Lohnnebenkosten sinken, kann Arbeit entstehen, will die Union glauben machen. Einige ketzerische Einwände

VON ULRIKE WINKELMANN

„Lohnnebenkosten senken bringt Arbeitsplätze“: Das ist die zentrale Botschaft der Kanzlerkandidatin der Union, Angela Merkel. Keine Talkshow, kein Interview, keine Pressekonferenz von CDU/CSU wird ohne eine Variation dieses Satzes bestritten.

Merkel will die Beiträge zur Arbeitslosenversicherung um zwei Prozent senken. Weil die Arbeitslosen aber weiter ihre Unterstützung bekommen müssen, will Merkel das Geld durch zwei Prozent mehr Mehrwertsteuer wieder hereinholen.

Das Muster ist bekannt: Rot-Grün hat ab 1999 die Beiträge zur Rentenversicherung gesenkt. Weil die Rentner aber weiter ihre Rente bekommen müssen, wurde das Geld durch höhere Energiesteuern – die Ökosteuer – wieder hereingeholt. Anders dagegen die rot-grün-schwarze Gesundheitsreform, mit der die Beiträge zur Krankenversicherung minimal sanken: Die wird nicht vom Steuerzahler, sondern größtenteils von den Kranken getragen. „Lohnnebenkosten senken bringt Arbeitsplätze“, lautet der Trost: Welcher Patient zahlt nicht gerne seine Pillen selbst, wenn es dafür mehr Jobs gibt?

Es gibt allerdings genug Anlass, das Lohnnebenkosten-Mantra anzuzweifeln. Die Arbeitslosigkeit etwa ist nach sieben rot-grünen Jahren sinkender Lohnnebenkosten und Steuern nicht mit gesunken. Die Arbeitgeber haben ihre Gewinne erhöht, jedoch keine Jobs geschaffen.

Außerdem bestehen Lohnnebenkosten gar nicht nur aus Sozialabgaben, sondern fast zur Hälfte auch aus tariflichen und betrieblichen Extras: Urlaub, Weihnachtsgeld etc. Warum richten die Arbeitgeber ihre Klage über Lohnnebenkosten eigentlich nur an die Politik?

Im Ausland gibt es eine derart verengte „Lohnnebenkosten“-Debatte gar nicht. Jenseits der deutschen Grenzen scheint klar zu sein, dass nicht die Sozialabgaben, sondern die gesamten Lohnkosten ausschlaggebend sind, ob ein Arbeitgeber sich einen neuen Arbeiter leistet – oder ob er lieber in Maschinen, in Aktien oder eben gar nicht investiert. Und die Lohnkosten steigen in Deutschland viel langsamer als in den konkurrierenden Volkswirtschaften. Angloamerikanische Wirtschaftszeitungen loben Deutschland als Investitionsstandort: Die Lohnstückkosten – die Arbeitskosten pro Stück – seien stark gefallen.

Es ist also ausgesprochen schwierig, aus der Wirklichkeit einen Zusammenhang zwischen Lohnnebenkosten und der Zahl der Arbeitsplätze abzuleiten. Doch kursiert seit Jahren in Politik und Medien eine Faustformel, die sich darum nicht schert: Ein Prozentpunkt weniger Lohnnebenkosten macht 100.000 Jobs.

Diese Faustformel beruht auf der mutwilligen Fehlinterpretation einer Grafik. Sie ziert den Titel einer Studie des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) in Nürnberg von 1997. Studien wie diese spüren mit Simulationsrechnungen einem unterstellten Zusammenhang von Lohnnebenkosten und Jobs nach, und am Ende stehen Prognosekurven auf dem Papier.

Wer jedoch die damalige Analyse des IAB-Mitarbeiters Gerd Zika durchliest, erfährt, dass die „Senkung von Sozialbeiträgen zur Lösung des derzeitigen Arbeitslosenproblems nur einen relativ geringen Beitrag leisten kann“. Bei falscher Gegenfinanzierung könnten sich sogar „zum Teil erhebliche Beschäftigungsverluste ergeben“.

Seiner jüngsten Studie hat Zika nun mehrere Absätze Warnung vor „undifferenzierten Betrachtungen von Beitragssatzsenkungen“ vorangestellt (siehe Interview). Fazit ist wiederum, dass die „Senkung der Lohnnebenkosten zwar zum Abbau der Arbeitslosigkeit beitragen kann. Sie stellt aber keinesfalls den alleinigen Ausweg aus der Beschäftigungskrise dar“.

Eine weitere Studie aus diesem Jahr stammt vom Konjunkturforscher Rudolf Zwiener. Am Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung (DIW) in Berlin kam er zum Schluss, dass sich eine halbe Million Jobs schaffen ließen, wenn rund 50 Milliarden Euro (rund 5 Beitragspunkte) aus den Sozialsystemen herausgenommen und stattdessen mit einer „klug ausgewogenen Kombination“ von Steuererhöhungen finanziert würden.

Über die Realisierungschancen macht Zwiener sich jedoch keine Illusionen: „Im Modell lässt sich so etwas immer gut rechnen. Aber im echten Leben gibt es eine Menge Begehrlichkeiten. Das Geld wird dann zur Haushaltskonsolidierung benutzt“, sagt er. „Auf gar keinen Fall“ aber sei eine Lohnnebenkostensenkung „ein Allheilmittel“.

Die Rolle der Lohnnebenkosten politisch überzubewerten hat Tradition, berichten Wirtschaftshistoriker. „Die Senkung der Lohnnebenkosten ist volkswirtschaftlich ganz klar ein Nebenkriegsschauplatz“, sagt etwa Carl-Ludwig Holtfrerich von der Freien Universität Berlin. Doch sei 1930 die große Koalition unter Reichskanzler Hermann Müller an der Erhöhung der Arbeitslosenversicherungbeiträge um ein halbes Prozent zerbrochen.

Heute wird vermutet, dass sich mit niedrigen Lohnnebenkosten wenn, dann nur im Billigjobsektor etwas erreichen lässt. Rot-Grün hat hierfür die Minijobs mit sehr stark verringerten Sozialabgaben geschaffen. Ergebnis: Voll sozialversicherungspflichtige Beschäftigung wird durch Minijobs ersetzt. Die Sozialkassen bluten. Unions-Kanzlerkandidatin Angela Merkel will nun Niedriglöhne aus Steuern bezuschussen. Ob ihr dies die Arbeitgeber danken werden?

Das Patentrezept, wie am unteren Ende der Lohnskala erträgliche und sichere Jobs zu schaffen sind, gibt es bislang nicht. Das Nachbeten von Arbeitgeberpropaganda hilft jedenfalls nicht.