: Die Landschaft schaut fern zurück
ANNÄHERUNG Eine Ausstellung in der Kieler Stadtgalerie berichtet in zwölf Positionen von den Schwierigkeiten, mit der Landschaft warm zu werden. Denn wie wir uns die Natur ausmalen, ist das eine. Wie wir uns in ihr bewegen, das ganz andere
Das Geräusch wird den Besucher die ganze Zeit verfolgen. Auch wenn er im hintersten Winkel der Kieler Stadtgalerie Schutz sucht, ist es da: ein Knattern, ein heftiges Flattern von offenbar hartem Stoff; manchmal ein kurzes Knallen, dazu das Aufheulen von Wind. Begleitmusik zur Ausstellung „Kalte Rinden – Seltene Erden. Die Landschaft in der Gegenwartskunst“.
Landschaft ist nur in unserer Vorstellung still. Liegt weitgehend geräuschlos vor uns, wenn wir die Augen schließen und uns in einer solchen vorstellen, bis langsam Meeres- oder Blätterrauschen einsetzt, vielleicht noch Vogelzwitschern, maximal Möwengekreische – und dann das!
Wie wir uns Landschaft und wohl auch Natur idealisch bis symbolisch ausmalen, herbei denken, ist das eine. Wie es dann ist, wenn wir uns in ihr bewegen, real und anwesend, das ist das ganz andere. Das Geräusch kommt übrigens von einem Zelt, genauer vom Film eines Zeltes. „9493“ heißt die Videoarbeit des brasilianischen Künstlers Marcellvs L.
Okay: Wo ein Zelt steht, da ist immer jemand, der darin übernachtet oder darin übernachten will. Und wie wir da so stehen und in das offene Zelt schauen, also genaugenommen den Film von einem Zelt betrachten, sehen wir das Kind, das da in dem Zelt liegt: ein Junge, mit leicht strubbeligen Haaren. Offensichtlich ist er irgendwo gelandet, wo es nicht allzu warm, vielleicht auch kalt ist: Denn wie er sich da in seinen Schlafsack zurückgezogen hat, trägt er einen geradezu klassischen Islandpullover aus dicker Wolle und dem gezackten Muster aus Schwarz und Weiß. Zusätzlich hat er sich die Kapuze eines darunter liegenden Sweatshirts über den Kopf gezogen.
Nur die Arme und Hände sind zu sehen – die einen Gameboy halten. Hingebungsvoll drückt der Junge die Tasten; hört man nun genau hin, ist das leise, elektronisch erzeugte Fiepen zu hören. Das laute Knattern der lose fliegenden Zeltbahnen scheint ihn nicht im Geringsten zu stören, so eingetaucht ist er in seiner (eigenen?) Welt.
„Kalte Rinden – Seltene Erden“, der Titel ist Programm. Die insgesamt zwölf künstlerischen Positionen erzählen von der Schwierigkeit, mit der Landschaft und den in ihr vorzufindenden Elementen warm zu werden – und vom Einfluss der unter dem lyrisch anmutenden Begriff der „seltenen Erden“ zusammengefassten Technologiemetalle wie Flachbildschirm, Handykamera und eben Gameboy.
Sie geben unserem ohnehin durch Anschauung grundierten Landschaftsidealen noch mal einen anderen Dreh: Der Sonnenaufgang wie der Sonnenuntergang ist entsprechend als Videoloop zu sehen; eine Arbeit von Mariele Neudecker. Der Belgier David Claerbout führt mit seiner Videoprojektion „The Stack“ in das Labyrinth eines offenbar nie fertiggestellten Autobahnkreuzes als Sinnbild für das Sujet der „Stadtlandschaft“ – bis das stärker werdende Sonnenlicht die Anwesenheit eines Menschen offenbart.
Vordergründig klassisch malerisch agiert Maik Wolf (der die Ausstellung kuratiert hat), der uns vor düster wirkenden und menschenleeren Wohnansammlungen zurücklässt. Und es fehlen auch nicht die oft so entrückt wirkenden Fotoarbeiten von Elger Esser, der mit seinem Mix aus stark vergrößerten, klassischen Landschaftsmotiven und Fotografien aufgegebener Orte, meist irgendwo am Meer, vielleicht unser diffuses Verhältnis zur Landschaft als Ideal wie als Leerstelle am besten repräsentiert.
Je näher man sich „Landschaft“ betrachtet, desto weiter rückt diese zunächst zurück. Und es bedarf einiger Anstrengungen, sich über genau diesen Vorgang einigermaßen klar zu werden. FRANK KEIL
bis 2. 9., Stadtgalerie Kiel