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Archiv-Artikel

Terroristen an Keyboard und Gitarre

MUSIK AUS DEM UNTERGRUND Sie improvisieren so lange, wie man sie lässt: Camera spielen den Soundtrack der Kreuzberger Nächte. Heute geben sie ein Release-Konzert für ihr erstes Album im Kater Holzig

Sie sind die Band, über die man stolpert, wenn man im Bahnhof um eine Ecke biegt

VON THOMAS WINKLER

Sie treten lieber in U-Bahnhöfen auf als auf einer Bühne. Ihre Konzerte kosten gewöhnlich keinen Eintritt, dauern dafür aber schon mal fünf Stunden. Oder vielleicht auch nur zehn Minuten. Oft wissen sie am Abend noch nicht, wo sie um Mitternacht spielen werden. Ja, sie haben noch nicht mal Songs. Nein, Camera sind wirklich keine gewöhnliche Rockband.

Immerhin haben Camera nun ein Album. Das heißt „Radiate!“ und ist ein großer Schritt für eine Band, die sich in den vergangenen beiden Jahren einen nachgerade mythischen Ruf in dieser Stadt erspielt hat. Camera sind die Band, der fast jeder Nachtschwärmer schon einmal begegnet ist, ob er wollte oder nicht. Sie sind die Band, über die man stolpert, wenn man im Bahnhof um eine Ecke biegt. Bei der man hängen bleibt, weil sie nicht bloß schon wieder „Blowing in the Wind“ spielt, sondern sich in ziellosen Improvisationen verliert. Camera sind die Band, die genau den Soundtrack spielt, den die Kreuzberger Nächte von heute verdient haben. Viele haben sie schon gehört, obwohl sie ihren Namen nicht kennen.

Völlig radiountauglich

Die üblichen Mechanismen des Geschäfts mit der populären Musik ignorieren Camera: Sie sind bisher nicht auf Tournee gegangen, sie finden Merchandising überflüssig und ihre Musik ist vollkommen untauglich für das Radio. Auch die bislang einzigen, sehr kurzen Verhandlungen mit einer richtigen Plattenfirma endeten mit der Erkenntnis, dass der mögliche Geschäftspartner bloß „Funktionsmusik“ von ihnen wollte. Aber: „Wir haben Ideale“, sagt Michael Drummer.

Der trägt diesen Nachnamen, weil er das Schlagzeug spielt. Er schlägt den stoischen Rhythmus auf seinem Instrument, und er brummt auch die Erklärung, wie dieses Ideal aussieht: „Wir spielen einfach.“ Und sie spielen oft, viel und lang. Sie spielen vor allem für sich und am liebsten in Kreuzberg.

Denn nur selten verlassen die drei den Bezirk, in dem sie wohnen. Meist schaffen sie es nur bis zum Schlesischen Tor. Bis dorthin sind die Instrumente, die Gitarre und das kleine Keyboard, das Rudimentärschlagzeug, die Verstärker und Batterien nicht so weit zu schleppen. Außerdem besitzt der hohe Vorraum des U-Bahnhofs, sagen die drei, die beste Akustik von allen in Frage kommenden Bahnhöfen. Man kann Camera genauso gut aber auch an der Warschauer Straße oder dem Kottbusser Tor antreffen. „Die sind alle geil“, sagt Gitarrist Franz Bargmann, „jeder hat seinen eigenen Geruch.“

Nicht so geil finden das – wenig überraschend – die Beförderungsbetriebe, die das Hausrecht innehaben und manchen Auftritt schon nach kurzer Zeit beenden. Ein paar Anzeigen wegen Hausfriedensbruch haben sich Bargmann, Drummer und Keyboarder Timm Brockmann schon eingehandelt, nach einer Auseinandersetzung mit einem BVG-Angestellten auch noch eine wegen Beleidigung, obwohl sich eher das zufällige Publikum mit Freude ins Räuber-und-Gendarm-Spiel stürzt. Die bereits mehrfach angedrohte Konfiszierung des Equipments haben sie bislang noch vermieden, obwohl ihre MySpace-Seite allein für dieses Jahr bereits mehr als drei Dutzend Auftritte auflistet.

„Die halten uns für Terroristen“, sagt Micha Drummer und berichtet, in den letzten Monaten habe die BVG noch einmal die Streifengänge der Security verstärkt. Die enden aber gewöhnlich zu vorgerückter Stunde, deshalb spielen Camera nun meist erst nach Mitternacht. Aber aufhören wollen sie natürlich nicht mit ihren Spontanauftritten, die in der Presse, nachdem sie sogar die Echo-Verleihung und den Deutschen Filmpreis gestürmt hatten, als „Guerilla-Gigs“ bezeichnet wurden. „Die sollen uns ruhig vor Gericht bringen“, sagt Bargmann, „was soll denn die Anklage sein? Musik machen?“

Ein hypnotischer Sog

Denn darum geht es: Musik machen. Das, was Bargmann humorig „Improvisation und Schabernack“ nennt, ist musikalisch hierzulande einzigartig. Die endlosen Improvisationen entwickeln einen hypnotischen Sog.

Meist gehen die drei nur von einem einzigen Ton aus, über dem sie endlos kreisen, trudeln, schrammeln, spielen und immer weiter spielen. Dabei pulverisieren sie die wenigen Akkorde, die sie kennen, zerlegen Rockklischees und rekonstruieren sie wieder, bis schließlich im Idealfall das entsteht, was sie für ihre erste Platte jetzt endlich einmal im Studio eingefangen haben. Diese, manchmal mehrere Nachtstunden währenden Improvisationen haben Camera den beständigen Vergleich zum Krautrock eingebracht. Sie sehen das anders, pflegen trotzdem ein enges Verhältnis zur Krautrock-Legende Michael Rother und scheren sich weder um Konventionen, Vergleiche, Logik – und schon gar nicht um die BVG.

■ Camera: „Radiate!“ (Bureau B/ Indigo), Record-Release-Konzert mit Michael Rother und Mueran Humanos am 9. 8. im Kater Holzig