: Laut und dreckig
FEIERN Der Strom junger Menschen, der sich an Wochenendnächten in den Friedrichshainer Kiez ergießt, passiert die Warschauer Brücke – und den dortigen Kaiser’s. Der hat sich auf den Andrang eingestellt: Seit einem Jahr hat er rund um die Uhr geöffnet. Eine Nachtreportage
VON MORITZ WICHMANN
„Abschießen oder nicht?“ Das ist die Frage, die sich Paul, Christian und Dennis* in der Getränkeabteilung stellen. Schließlich greifen sich die drei Jungs in Polohemden, die von Zehlendorf nach Friedrichshain gekommen sind und sich gleich ins Nachtleben stürzen wollen, je eine Halbliterflasche Desperados-Bier. An der Kasse wird weiter diskutiert: „Alter, wir wollen ja noch in den Club reinkommen“, argumentiert Paul. „Er will sich abschießen, wir nicht“, klärt er die hinter ihm Wartenden auf und wägt ab, ob es ein Bier weniger vielleicht auch tut. Dann werden doch alle Flaschen gekauft, bevor die drei in der Menschenmenge auf der Straße verschwinden und sich in den „Suicide Circus“ aufmachen.
Es ist Freitagnacht, Mitternacht, um genau zu sein. Die Clubszene bereitet sich aufs Ausgehen vor. Wer aus den südlichen Bezirken nach Friedrichshain drängt, muss am Kaiser’s-Supermarkt an der Warschauer Straße vorbei – und legt dort gern mal einen Zwischenstopp ein. Denn diese Filiale hat rund um die Uhr geöffnet – von Montagmorgen um sieben bis Samstagabend um halb zwölf. Auch jetzt sind drei von sechs Kassen geöffnet, an allen warten lange Schlangen, auf dem Boden liegen Kassenzettel. Zwei Securities langweilen sich im Eingangsbereich. Draußen warten Gruppen junger Menschen mit Bier und Sekt und trinken „vor“, um in Stimmung zu kommen, bevor sie im Cassiopeia, dem Astra Kulturhaus oder den anderen Clubs an der Revaler Straße verschwinden.
Touristen und Trinker, Skater und Studenten, Ballermänner und Bildungsbürger treffen beim Kaiser’s aufeinander. Laut, voll und lärmend präsentiert sich die Stadt um diese Zeit und an diesem Ort. Das kann eine Zumutung sein, anstrengend, dreckig – und es kann Spaß machen.
David hat die Szenerie gut im Blick. Der 29-Jährige arbeitet bei Imbiss Friedrich, der Currywurstbude vor dem Eingang des Supermarkts. „Wir machen hier bis um zwei Uhr. Aber ich könnte auch durcharbeiten – siehste ja, was hier los ist“, sagt er und deutet auf den Strom der Menschen, die S- und U-Bahnen ausgespuckt haben und die nun unaufhörlich an ihm vorbeiziehen.
David ist fasziniert von der Warschauer Straße und auch von seinen Kunden. „Manchmal ist das hier wie Kino“, findet er. Neben den Skatern, die auf dem Vorplatz auch mitten in der Nacht ihre Tricks üben, seien viele „Freaks“ unterwegs, aber die seien harmlos. „Letztens stand hier einer rum, keine Ahnung, was der genommen hatte, und hat die Blumen vor dem Kaiser’s gezählt, zehn Minuten lang“, sagt der Verkäufer amüsiert. Aggressive Betrunkene seien da schon schwieriger, aber mit denen müsse man „einfach vorsichtig reden“. Und schließlich gebe es auch noch die ganz normalen Kunden, sagt David und schüttelt den Kopf: „Die gehen auch nachts um drei noch richtig einkaufen.“
Eine davon ist Anna. Die Uhr zeigt jetzt eins, und die 27-jährige Studentin steht etwas verloren zwischen den vielen ausgelassenen Menschen an der Kasse. Auf dem Band vor ihr liegen Ziegenkäse, Salat und Schinken. „Sieht schon ein bisschen komisch aus: Alle kaufen Bier, nur ich nicht“, sagt die junge Frau mit den gepflegten blonden Haaren und dem Baumwollbeutel selbstkritisch.
Trotzdem: Rund um die Uhr einkaufen zu können gefällt Anna: „Sonst müsste ich morgen früh raus, dann lieber jetzt“, sagt sie ein wenig entschuldigend. Sie beobachtet die Punks neben ihr, die sich mit Getränken eindecken. Demnächst ziehe sie nach Hannover, erzählt sie, da gebe es so was nicht. Sagt’s, winkt kurz und bahnt sich ihren Weg zum Ausgang.
Securities sind auch da
Bis zu acht Mitarbeiter plus Securities arbeiten nachts in der Filiale an der Warschauer Straße. „Natürlich lohnt sich das, sonst würden wir es nicht machen“, sagt Frank Rösler, Kaiser’s-Distriktmanager für Berlin-Brandenburg. Eine Voraussetzung, um 24 Stunden geöffnet zu haben, sei natürlich die „entsprechende Klientel“ – und die gebe es nur an wenigen Orten in Berlin: hier in Friedrichshain, an der Schönhauser Allee und am Nollendorfplatz. Seit einem Jahr hat die hiesige Filiale rund um die Uhr geöffnet. Wie hoch der Umsatz in so einer Partynacht ist, lässt sich Rösler nicht entlocken – „deutlich höher“ als unter der Woche jedoch.
Höher als unter der Woche ist auch der Umsatz bei denjenigen, die die Hinterlassenschaften der Spaßgesellschaft wegräumen: Vor dem Pfandautomaten in einer Ecke neben der Kasse stehen die Flaschensammler an. Sechs Männer warten darauf, Leergut abgeben zu können. Einer von ihnen ist Ionut aus Rumänien: „Freitagnacht mache ich bis zu 30 Euro in vier bis fünf Stunden“, sagt der 27-Jährige.
Ionut ist vor drei Jahren nach Deutschland gekommen. Zwei Jahre hat er in Hamburg auf dem Fischmarkt gearbeitet, nach seiner Entlassung konnte er sich das Leben dort nicht mehr leisten. Jetzt sammelt er Flaschen rund um die Warschauer Straße. Ihm gefällt das Leben in Berlin – aber er überlegt, nach Rumänien zurückzugehen, weil es „einfach keine Arbeit“ hier gebe.
Nachdem Ionut den Automaten gefüttert hat, setzt er sich mit einem Freund auf die Stufen vor dem Supermarkt und öffnet ein Bier. Das Ploppen läutet seinen Feierabend ein. Nun ist auch er einfach Teil der Menge.
*Namen geändert