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: Schule muss man auch erst mal schaffen, so nebenbei

Unter dem Hashtag #Corona­ElternRechnenAb ging vor ein paar Tagen eine simple Rechnung viral: Da es weder Schule noch Kita gibt, müssen wir Eltern das jetzt selber machen und stellen das symbolisch dem Staat in Rechnung. Die Aufregung war groß: erst Kinder in die Welt setzen und sich jetzt nicht kümmern wollen. Ein unbegründeter Vorwurf, finde ich. Denn es geht ja gar nicht darum, dass man seinen Nachwuchs nicht „betreuen“ will. Sondern, dass Eltern gerade den kompletten Schulunterricht selber stemmen müssen. Neben der eigenen Berufstätigkeit, versteht sich.

Praktisch sieht das so aus: „Unsere“ Schule schickt die Aufgaben über zwei Lernplattformen. Lehrer, die damit nicht klarkommen, machen das per E-Mail an die Eltern. Bei mehr als zehn Fächern gar nicht so einfach, den Überblick zu behalten. Denn die Aufgaben kommen nicht zu festen Zeiten, sondern irgendwann – haben aber immer feste Abgabetermine.

Zu meinem Elternjob gehört: ausdrucken der bis zu 20 Arbeitsblätter pro Woche im Büro und zuordnen zu einzelnen Fächern, da oft weder Fach noch Datum oder Lehrkraft draufstehen; mit meinem Schüler einen Arbeitsplan erstellen und dessen Einhaltung überwachen; die handschriftlichen Texte digitalisieren, damit sie überhaupt wieder abgegeben werden können; so gut wie nie eine Rückmeldung von den Lehrern bekommen und den Schüler trotzdem täglich motivieren, „etwas für die Schule zu tun“, an die er sich mittlerweile nur noch sehr vage erinnert.

Dazu kommen die neuen Lehrinhalte, die ja eigentlich von ausgebildeten Pädagogen erklärt werden sollten. Das mache ich jetzt alleine. Für alle Fächer, versteht sich. In den letzten Wochen war das unter anderem: antikes Drama; Elek­tronenpaarbindungen; irgendwas mit Strom, das ich nicht konnte; Erster Weltkrieg, Französische Revolution und Zeitalter der Aufklärung; indirekte Rede in Französisch; Bevölkerungspyramiden und Demografie; in Mathe sicher auch etwas; Atmungsorgane, Verdauung und Blutkreislauf; Philosophie des Glücks. Es galt, eine Papierpyramide zu basteln, eine digitale Broschüre zu erstellen und einen französischen Dialog aufzunehmen. Ich suche Lernvideos im Netz, verzweifle an den Büchern und an der Realitätsferne all dieser Aufgaben.

Wie in einem guten Computerspiel kommt jetzt ein neues Level und damit eine neue Schwierigkeitsstufe: Präsenzunterricht. Zum ersten Termin gibt es: eine vage Ankündigung, eine längere Info und diverse Mails mit Stundenplan, Gruppenaufteilung. Verhaltensregeln und Hygienekonzept (ausdrucken, mit den Kindern durchsprechen, unterschreiben, an die Schule zurück). Um keine Routine aufkommen zu lassen, schicken sie den zweiten Termin über die Schülerlernplattform. Wenn man da nicht jeden Tag alle Ordner checkt, kann man das leicht übersehen. Ich erfahre eher zufällig davon, mein Sohn hat im Klassenchat davon gelesen. Sicherheitshalber informiere ich die Elternsprecherin, die schickt eine Rundmail, damit alle Bescheid wissen. Ein Vater meldet, er könne den Stundenplan auf der Plattform nicht finden. Eine Mutter schreibt: „Oh, hat die Schule schon wieder angefangen?“

Auf Nachfrage erfahren wir: In Zukunft wird es weniger Aufgaben für zu Hause geben, weil die Lehrer jetzt durch den Präsenzunterricht so eingebunden sind. Der findet für unsere Kinder gerade einmal alle 14 Tage statt.

Hier sollen Eltern politisches Totalversagen quasi alleine ausgleichen. Als sei Bildung Privatsache, während auf höchster politischer Ebene Konzepte für Fußball und Pauschaltourismus, für Autos mit Verbrennungsmotor und klimaschädigende Airlines erstellt und mit Millionenbeiträgen unterstützt werden.

Aber wer wollte denn die Kinder? Eben.

Gaby Coldewey