Wolfgangs Welt

VON HANNES KOCH

Bundeswirtschaftsminister Wolfgang Clement (SPD) lebt in einer anderen Welt als schätzungsweise zwei Drittel der bundesdeutschen Bevölkerung. Zu Brezeln und Wein hatte der Minister am Mittwochabend geladen, um eine Bilanz seiner dreijährigen Amtszeit zu ziehen. In der Welt des Wirtschaftsministers sieht es zurzeit wie folgt aus.

Die deutsche Wirtschaft funktioniert „so gut, wie im ganzen letzten Jahrzehnt nicht mehr“. „Niemand hat“, so Clement, „so starke Fundamente für eine weltoffene soziale Marktwirtschaft gelegt, wie diese Regierung.“ Der Abbau der Bürokratie klappt. Die hiesige Wirtschaft fahre „auf Wachstumskurs“, habe die „rote Laterne“ in Europa abgegeben, könne die Wellen der Globalisierung besser reiten als 1998, und sie strebe zurück an die Weltspitze.

Clement lobte die „teilweise faszinierende Gewinnsituation“ in den Unternehmen. Die hohen Überschüsse bei Banken und Industrie gelten dem Minister als Vorboten des „selbsttragenden Aufschwungs“ – die stagnierenden Löhne und Arbeitskosten als Unterpfand des nächsten Booms. Die schriftliche Erfolgsbilanz hatten Clements Mitarbeiter mit Zitaten von internationalen Ökonomen garniert. Zum Beispiel aus dem liberalen britischen Fachmagazin Economist: „Those super-competitive Germans“ – „diese super-wettbewerbsfähigen Deutschen“. „Mir geht’s blendend“, erklärte der Minister. Und er habe auch nicht vor, bei der Bundestagswahl am 18. September mit dem „Fallschirm unter dem Teppich zu landen“.

Die Welt der Mehrheitsbevölkerung dagegen ist geprägt von durchaus anderen Empfindungen. Gestern nahm die Zahl der Arbeitslosen wieder einmal zu (siehe unten). Jenseits der offiziellen Statistik dürfte die Menge der Erwerbslosen, Unterbeschäftigten und Jobsucher tatsächlich an die acht Millionen Menschen heranreichen – rund zwanzig Prozent der Erwerbsbevölkerung. Gute Geschäfte bei den Unternehmen setzen sich kaum in neue Arbeitsplätze um. Die stabilen langfristigen Stellen, die eine Familie problemlos ernähren, gehen stattdessen im Durchschnitt der Jahre zurück. Die Löhne stagnieren. Die privaten Kosten für die soziale Sicherung steigen. Zwei Drittel der Bevölkerung wollen deshalb eine andere Regierung, der Bundespräsident hat den Bundestag aufgelöst.

So unterschiedlich die Ansichten heute sein mögen – kann es sein, dass die Welt der Mehrheit sich so verändern wird, wie es der Minister gerne hätte? Möglich ist das. Die Maßnahmen der Regierung wie Steuersenkung, bessere Vermittlung von Arbeitslosen, Hartz IV, Renten- und Gesundheitsreform machen mehr Sinn als Unsinn. Nur: Was dabei herauskommt, steht in den Sternen. Tatsächlich mehr Arbeitsplätze? Das ist heute eben bloß eine Hoffnung, die der Minister mit seinen Getreuen teilt. Vermutlich trifft sie ein – in fünf, zehn oder zwanzig Jahren. So lange können wirtschaftliche Anpassungsprozesse dauern – mitunter zu lange im Vergleich zur Regierungszeit eines Wirtschaftsministers.

Dass er auf seinem Weg – Wahlen hin oder her – mit einigen Problemen rechnet, hat Wolfgang Clement trotz aller Selbstüberzeugungskraft am Mittwoch immerhin eingeräumt. Jede Regierung stehe unter Druck, wenn sie versuche, die Segel in den Wind des Weltmarktes zu drehen. „Das ist in Österreich so, in Schweden und in Frankreich“. Auch sei es kein Wunder, wenn die Bevölkerung mit Gefühlen der Unsicherheit ob der neuen Anforderungen reagiere. „Deshalb werden sie mich aber nicht zerknirscht sehen“, sagte Clement, „dazu habe ich gar keinen Grund.“

Selbstzweifel ließ der Wirtschaftsminister während der anderthalbstündigen Veranstaltung nur einmal erkennen. Vor seinem Amtsantritt habe er sich die „derart komplexen Probleme am Arbeitsmarkt“ nicht recht vorstellen können: „Das hat mich überrascht.“