: Gräte sich, wer kann
Ob Brachsen, Rotaugen oder Gründlinge: Wirtschaftswunder-Deutschland verdammte die Fische – wegen ihrer Gräten. Heute könnten sie eine delikate und preiswerte Alternative sein zu Zuchtlachs & Co.
VON KURT F. DE SWAAF UND RALF PIERAU
Wellen schlagen an die Bootswand. „Papa, du bist ja ganz verlaicht!“, plappert der kleine Lars. Der Papa ist Fischer, heißt Götz Kuhn und jagt mit seinem neunjährigen Sohn am Morgen kurz vor sieben über den Kleinen Bodensee nördlich von Karlsruhe. Fischer Kuhn legt an, stellt den Außenbordmotor seines Aluminumkahns ab, zieht die Angelstäbe aus dem Wasser und holt das Netz ein; nun ist es still. Einzig Blässhühner sägen, als würde man mit einem trockenen Schwamm vor und zurück über ein Fenster wischen: I-üh, i-üh. Mit geübten Griffen löst Götz Kuhn die Fische aus dem prall gefüllten Netz. Einige Fische haben dicke Bäuche: Es ist Laichzeit. Die Weibchen verlieren Rogen, während Kuhn sie aus dem Netz hievt. Gelbe Fischeier kleben an der Bordwand, und sie pappen am Ölzeug des Fischers. Papa ist verlaicht. Die Fische wandern in einen Plastikbottich. Und zappeln.
Kein großer Fang für Fischer Kuhn. Die Fische sind eben nur Brachsen. Kein Schreibfehler. Einfach Brachsen. Den Lateinern unter Abramis brama bekannt, nennt sie der Angler gern auch Blei oder Brasse. Egal welchen Namen diese Süßwasserfische führen, eins steht fest: Der heutige Fischesser mag sie nicht. Schuld ist die Gräte. Das Fleisch der Brachse ist durchzogen von vielen kleinen, verzweigten Gräten.
Das weiß auch Fischwirt Götz Kuhn. Seinen Berufsweg begann er mit einem Studium der Betriebswirtschaftslehre an der Uni Stuttgart-Hohenheim, das er mit dem Doktortitel krönte. Daneben entdeckte er das Fischen. Das Handwerk faszinierte ihn. Heute verfügt er zudem über einen Meisterbrief in der Fischwirtschaft. Kuhn, der fischende Doktor. Nach und nach gelang es ihm, Gewässer zu pachten, eine rentable Bewirtschaftung aufzubauen. Sein Hauptgewässer ist der linke Rheinabschnitt mit den Altarmen stromaufwärts von Ludwigshafen bis zur französischen Grenze. In seinen Netzen landen vor allem Brachsen. Andere Weißfische wie Rotaugen machen weitere zwanzig Prozent seines Fangs aus. Auch Aale gehen ihm ins Netz. Ein Kilo davon bringt zwölf Euro auf dem Markt. Für den überwiegenden Teil seines Fangs gilt das nicht. Für ein Kilo Brachsen kann er nur einen Euro sechzig verlangen. Warum also Brachsen? „Gerade sie haben äußerst wohlschmeckendes Fleisch“, schwärmt Kuhn.
Genutzt hat das nichts. Im Westen brach bereits mit dem Wirtschaftswunder der Umsatz bei Süßwasserfischen ein. Die Wessis verlernten das Entgräten ganz, konzentrierten sich auf Zuchtlachs & Konsorten aus den Supermärkten. Zwar eroberte später die Fischgrätenpinzette den Markt, sie setzte sich allerdings nur als Zubehör im japanischen Küchenensemble durch. Die Binnenfischerei musste sich in eine Nische zurückziehen. Denn im Gegensatz zur Hochseefischerei ist die kleine Fischerei für die Industrie uninteressant.
Anders war das in der DDR, wo man den Geschmack der Süßwasserfische schätzte. Als jedoch Aldi & Co den Osten eroberten, zog sich auch dort die heimische Fischerei in die Nische zurück. Heute sind es vor allem russische Einwanderer, die Brachsen bei Götz Kuhn kaufen. In Osteuropa schätzt man den großen Fisch mit fast zwei Kilo Lebendgewicht, zieht ihn gar dem Karpfen vor.
Es gibt 30.000 bekannte essbare Fischsorten auf der Welt. Ein Fischliebhaber in der Bundesrepublik kennt etwa 45 davon. Untersuchungen zeigen, dass Verbraucher gerne öfter Fisch essen würden, wenn nur die Gräten nicht wären. Ernährungstechnisch weiß heute jeder, dass Fische zu den wichtigsten Eiweißlieferanten gehören. Sie haben ein sehr loses Bindegewebe, die Eiweiße können vom menschlichen Körper schnell aufgeschlossen werden. Fisch ist reich an Vitaminen, fördert den Knochenaufbau, eignet sich hervorragend als Diät- und Schonkost. Das gilt auch und gerade für heimische Süßwasserfische. Die Lobeshymne ließe sich fortsetzen. Wären da nicht die Gräten. Plötzlich fällt einem diese Kindheitsgeschichte ein: Der heilige Blasius rettete einem Jungen, der an einer Fischgräte zu ersticken drohte, mit einem flinkem Griff in den Schlund das Leben. Das qualifizierte Blasius im Heiligenreich zum Helfer gegen Halsleiden.
Die Gräte ist heute vom Tisch, und Rezepte gegen das Verschlucken von Gräten sind vergessen. Anders bei unseren Vorfahren: Uroma wusste noch, dass dicker Kartoffelbrei oder reichlich weiches Brot ohne Rinde die verschluckte Fischgräte im Halse fängt. Auch das geübte Zerlegen (Tranchieren) und Filetieren des Fisches kann Schlimmes verhüten. Doch die Legende vom möglichen Erstickungstod durch die Gräte lebt weiter. Insofern erscheint der Gang zur Kühltheke im Supermarkt mit dem bequemen Angebot an Industriefischen vollkommen logisch.
So tummelt sich der wegen seiner Gräten nicht gern gesehene Tischgast frei und fast unbehelligt im Wasser. Mit Konsequenzen. „In vielen Gewässern“, sagt Kuhn, „gibt es zu viele Weißfische.“ Auch im Kleinen Bodensee. „Die riesigen Populationen vertilgen massenhaft Plankton“, weiß der kundige Fischer, „und stören damit das ökologische Gleichgewicht.“ Eine intensivere Befischung könne das verändern. Das wäre ökologisch. Und für Fischesser gesund.
Kapitän Kuhn und sein Schiffsjunge bringen an diesem Vormittag 152 Kilo Brachsen und 10 Kilo Aale vom Fang mit. Für die Letzteren werden sie auf jeden Fall Käufer finden. Die anderen, viel preiswerteren Brachsen müssen auf geübte Hände warten. Auf Käufer, die sich vor dem schmackhaften Speisefisch mit den vielen Gräten nicht fürchten. Zu denen gehört Fischer Kuhn. Wie er sie mag? „Am liebsten geräuchert. Mit einem kühlen Bier.“
KURT F. DE SWAAF, Jahrgang 1963, lebt als freier Journalist in Heidelberg. RALF PIERAU, Jahrgang 1966, lebt als freier Lektor und Journalist in Berlin