: „Vieles wird hochkommen“
Die Räumung des Gaza-Streifens steht unmittelbar bevor. Doch wenn der Frieden endlich kommt, befürchtet der israelische Psychologe Dan Bar-On, wird Israel eine Welle der Selbstdestruktivität erleben
INTERVIEW GABY SOHL
taz.mag: Der israelische Botschafter, Schimon Stein, hat am Rande einer Ihrer Veranstaltungen in Berlin sinngemäß gesagt: Dan Bar-On kennt alle politischen Seiten – der kann machen, was er will! Freut Sie das, Herr Bar-On?
Dan Bar-On: (lacht) Was heißt „Der kann machen, was er will“? Damit sagt er, dass er sich das nicht erlauben kann?
Das wohl auch. Hat er denn Recht?
Ich glaube nicht. Ich glaube, dass ich mir mit sehr viel Mühe einen eigenen Standpunkt geschaffen habe, meine Meinung frei zu äußern, auch wenn sie politisch nicht immer korrekt ist. Weil ich versuche, Sachen zu verstehen und anzufassen, die viele Leute nicht bereit sind anzufassen. Ich versuche immer zu sehen: Wo sind Wahrheiten zu finden in den verschiedenen Standpunkten? Wo kann man sie zusammenbringen? Diese Konflikte versuche ich dann theoretisch zu formulieren. Ich würde nicht sagen: Er kann tun, was er will. Er tut, was er kann! Aber ich fühle mich auch sehr ohnmächtig – ich sehe nicht, dass meine Meinung irgendwelchen Einfluss haben wird auf die Politik. Vielleicht hat der Botschafter mehr Einfluss auf die Politik. Aber dafür muss er dann auch sehr politisch korrekt sein.
Und Sie genießen den Respekt – von allen Seiten.
In Israel fühle ich mich eher marginalisiert. Von Politikern, von bestimmten Leuten, die sich im Mainstream der Psychologie bewegen. Sie mögen meine Arbeiten weniger, weil sie nicht reinpassen in ihre Schubladen. Und dann fühle ich mich nicht sehr wohl. Auch hier in Deutschland nicht. Ich komme gerade von einer Tagung über Israel und Palästina, ein sehr engagiertes Publikum. Aber es war eher eine Tagung zur Unterstützung von Palästina. Ich habe diese Einseitigkeit angegriffen. Ich finde, wenn Leute sich engagieren, sollten sie sich Gedanken machen, ob sie wirklich hilfreich sein können, den Konflikt zu lösen. Die Leute müssten schon tiefer denken, die Situation komplexer darstellen, auch mal versuchen, mit der anderen Seite zu reden. Ich habe das Gefühl, dass diese Leute ihre eigene Vergangenheit nicht sehr gut bearbeitet haben. Das habe ich ihnen gesagt, und das mochten sie nicht.
Sie bringen israelische und palästinensische Jugendliche in gemeinsame Gesprächsgruppen. Jugendliche, die durch Krieg und Terror traumatisiert wurden. Wie spricht man mit so jungen Menschen über den Tod?
Für Jugendliche ist der Tod immer ein großes Thema, in ihren Gedanken und in ihren Träumen. Es ist überhaupt nicht schwer, mit Jugendlichen über den Tod zu reden.
Es wird aber kaum gemacht.
Es ist schlimm, wenn man das Gespräch abbricht, weil sie an Selbstmord denken. Jugendliche stellen sich während der Pubertät sehr oft die Frage: Will ich überhaupt weiterleben? Man muss ihnen erlauben, sich offen zu äußern. Sonst gibt es keinen Dialog. Ich glaube, alle Menschen, egal in welcher Kultur, beschäftigen sich gerade in diesem Alter, bewusst oder unbewusst, sehr intensiv mit dem Tod. Die Suizidrate in Israel ist sehr niedrig – weil wir im Krieg leben. Unsere jungen Leute sterben im Krieg oder bei Terroranschlägen. Ich befürchte, wir werden sehr viel mehr Selbstmorde in Israel erleben, wenn der Frieden endlich kommt. Dann wird vieles an die Oberfläche kommen, was im Moment vom Krieg verschluckt wird. Und was Krieg und Terror in den Menschen hinterlassen haben.
So viele hoffen auf den Frieden – und gerade dann befürchten Sie mehr Selbstmorde in Israel?
Sehr viel Depressivität wird hochkommen. Man sieht es schon heute, bei den Evakuierungen in Gaza. Die Leute werden plötzlich konfrontiert mit einer Realität, die sie lange auszublenden versucht haben. Das bringt erst einmal Depressivität. Und zum Teil bringt diese Depressivität dann Selbstdestruktivität. Diejenigen, die hauptsächlich beschäftigt waren mit Aktionen, die Palästinenser misshandelt haben, werden negative Konsequenzen tragen müssen, moralisch und emotional. Sie werden ganz allein sein, weil die Gesellschaft sich weiterentwickeln wird. Und diese Einsamkeit bringt selbstzerstörerische Reaktionen.
Sie haben in den 70er-Jahren als psychologischer Berater für die israelische Armee gearbeitet. Welche Entwicklungen im Militär sehen Sie heute, im Zusammenhang mit den Räumungen in Gaza?
In Gaza wird zu jeder Armeegruppe ein Psychologe dazugestellt. Was soll der Psychologe da machen? Die Soldaten müssen die Leute da rausholen – das ist eine sehr schlimme Realität, und kein Psychologe hat da irgendwas zu tun. Aber das zeigt auch, wie sich Psychologen selbst dargestellt haben und angeboten für Sachen, bei denen sie nur in sehr geringem Maße helfen können. Die Soldaten sind verwirrt. Sie können nicht mehr verstehen: Was genau müssen sie machen, was sollen sie machen – in welche Richtung geht das Land? Zum Teil versuchen sie, sich rauszuziehen aus dem Militär, zum Teil wehren sie sich gegen das, was sie machen müssen, und es gibt auch viele Soldaten, die sich umbringen. Sehr viel mehr als vor ein paar Jahren. Wir haben heute in der israelischen Armee einen Suizid pro Woche. Das ist viel.
Und tragisch – für alle Seiten.
Wir sind schon lange in einer Lose-lose-Situation. Und wir kommen da nicht raus, weil unser politisches System von beiden Seiten nicht die Leute in den Vordergrund gebracht hat, die uns wirklich kreativ hätten rausbringen können. Alle verlieren dabei, keiner gewinnt. Die Einzigen, die einen Gewinn davon haben, sind die Radikalen – die Rechtsradikalen in Israel und die Islamisten in Palästina. Sie gewinnen neue Leute, weil die Menschen an nichts anderes mehr glauben können. Und dann liefern sie ihnen diesen way out, diese schlimme Vision: „Mach nicht einfach Selbstmord, mach ein Attentat! Dann tust du was Gutes für deinen Kampf und für dein Land.“ Man kann sagen: Die Hamas und die Siedler waren eigentlich gegenseitig einverstanden miteinander. Weil das der einzige Weg war, sich als Helden darzustellen.
Es gehört schon eine gehörige Portion Verzweiflung dazu, bis Menschen so weit sind, dass sie sich das Leben nehmen wollen.
Und Einsamkeit. Ich kann Ihnen etwas Persönliches sagen. Es gibt einen Teil von mir, der sich mit Selbstmord lange beschäftigt hat. Ich habe zwei Familienmitglieder, die Selbstmord begangen haben – meinen Großvater und eine Tante. Das wurde mir aber erst vierzig Jahre später erzählt, es war ein Familiengeheimnis. Ich beschäftige mich sehr mit Personen wie Paul Celan, Jean Améry und Primo Levi. Alle drei waren Überlebende der Schoah, alle drei haben sich sehr viel später umgebracht. Ich finde, dass wir Selbstmord oft nicht genau verstehen. Die Frage ist nicht, warum diese Menschen Selbstmord begangen haben, die Frage ist: Warum haben sie so lange gelebt? Und: Welche Kreativität kann entstehen bei Menschen, die diese Neigung zwar haben, aber den Selbstmord nicht begehen?
Gab es Momente, in denen Sie selbst an Suizid gedacht haben?
Suizid ist immer eine Lösung für eine Unfähigkeit, weiterzuleben. Ich glaube, es ist eine narzisstische Lösung. In dieser Situation denken Menschen hauptsächlich an sich selbst, nicht an andere. Und narzisstische Tendenzen haben wir alle. Hätte ich in einer sehr kritischen Zeit wie im Zweiten Weltkrieg gelebt und irgendwann überhaupt keine Aussicht mehr gesehen … vielleicht hätte ich dann Selbstmord begangen. Aber das ist schwer zu sagen. Wenn ich in sehr schwierigen Situationen war, habe ich mir immer Hilfe gesucht – vielleicht war ich einfach vernünftig genug, mir diese Hilfe zu holen? Wenn man sich zu sehr einsam sein lässt in sehr schweren Situationen, dann wird es gefährlich.
Jean Améry hat gesagt, dass es ihm bei seinem Freitod darum gehe, die eigene Würde wenigstens im Tod zu bewahren – wenigstens den Tod selbst bestimmen zu können.
Ich weiß, dass er das so dargestellt hat. Ich habe einmal versucht, darüber etwas zu schreiben, ich habe es aber noch nicht veröffentlicht – ja, warum? Weil ich es so wichtig fand. Es beschäftigt mich noch immer. Viele Überlebende konnten ihre Erfahrungen nach der Schoah verdrängen. Diese Verdrängung war funktionell: um ihr Leben weiterführen zu können. Celan, Améry und Levi – gemeinsam war ihnen, dass sie zu geringe Verdrängungsfähigkeiten hatten, nach dem Krieg. Einerseits waren sie gerade deshalb fähig, Sachen zu schreiben, die kein anderer schreiben konnte. Weil sie so empfindlich, so empfindsam waren. Andererseits aber wurden sie furchtbar enttäuscht, weil sie die Fantasie hatten: Wir können jetzt durch unsere Erzählungen über die Schoah die Gesellschaft verändern – jetzt werden die Leute uns zuhören! Und nichts davon ist passiert. Es war, als wäre jeder nur in seinem eigenen Raum eingeschlossen. Sie wurden sehr pessimistisch über ihre eigene Rolle.
Wird heute zugehört? Es wurde sehr viel über die Traumatisierung durch den Holocaust gesprochen, geschrieben, gedacht …
Trauma bedeutet sehr viel Schmerz. Die meisten Leute rennen weg vor Schmerz. Menschen dazu zu bringen, dass sie anerkennen: Der Schmerz ist ein wichtiger Teil in unserem Leben, im eigenen und bei anderen, das ist eine Kunst. Das kann nicht jeder. Deswegen bleiben so viele Leute immer wieder einsam in ihrem Schmerz. Wir wissen heute so viel darüber, wie kollektive Traumata entstehen, aber unser Wissen geht nicht zusammen mit Wegen, wie wir diese Traumata aufarbeiten können. Sicher, teilweise findet man Wege … aber unser ganzes Wissen hilft uns nicht, das Trauma zu verlieren. Es bleibt.
Inzwischen gibt es etliche Filme, die den Holocaust fast opernhaft inszenieren. Ist das ein Weg, sich diesem Schmerz zu nähern?
Ich kenne viele Leute, die weinen nur, wenn sie einen Film sehen. Wir werden neue Probleme mit den virtuellen Realitäten erleben, aber in diesem Medium, dem Film, wird etwas erlaubt, was in vielen Kreisen nicht stattfinden kann, im echten Leben. Es war immer eine Minderheit, die diese Fragen, diesen Schmerz wirklich durchgearbeitet hat. Und es wird eine Minderheit bleiben.
In Ihrer Autobiografie „Erzähl mir dein Leben“ schreiben Sie, dass Sie ein sehr ruheloser Geist sind. In der Naturwissenschaft sagt man: Im Auge des Sturms ist es am ruhigsten. Gibt es ein solches „Auge des Sturms“ im Dialog mit traumatisierten Menschen?
Ich benutze in meiner Arbeit manchmal Analogien zu den Wirbelstürmen, die wir in der Wüste erleben. Wenn ein echter dialogischer Moment sich entwickelt zwischen Leuten, die von zwei Seiten eines Konflikts kommen und plötzlich gegenseitig etwas Fundamentales kapieren – gemeinsam – ja, vielleicht haben Sie Recht: Da ist ein Moment von Ruhe. Auf jeden Fall ein neues Gefühl. Man hat etwas bekommen, was man vorher nicht verstanden hat. Das ist eine Erleichterung, eine Form von Katharsis. Aber gleich danach geht die Unruhe wieder los. So ein Moment bleibt nicht, es kommen neue Fragen, neue Unruhen.
GABY SOHL, 45, freie Autorin und Assistentin der taz-Chefredaktion, lebt in Berlin. Sie hat Philosophie und Sozialarbeit studiert und mehrere Jahre als Krisenberaterin für Selbstmordgefährdete gearbeitet