: Einfach mal hingucken
BILDKRITIK Eine zu Unrecht unterschätzte olympische Disziplin ist das Zuschauen. Unser Autor hat sich alles angesehen, was der Donnerstag bot. Was hat er gesehen?
VON ARNO FRANK
Männner mit Schwächen
Der Zehnkämpfer als solcher rührt, weil jeder von ihnen gewisse Disziplinen „nicht so gut“ kann wie die Spezialisten oder andere Zehnkämpfer. Er hat sozusagen eingebaute Schwächen, die sich am Ende ausgleichen. Als am Ende alles ausgeglichen ist, gewinnt der Amerikaner Ashton Eaton. „Er schreibt Geschichte“, sagt der Fernsehkommentator. Wie bei Olympia ohnehin immer seitenweise Geschichte geschrieben wird. Hinterher lassen sich die Zehnkämpfer zusammen fotografieren. Eine höchst seltene Szene: Sportler in verschiedenen Trikots im Mannschaftsfoto mit Jubelpose. Nationale Kraftmaschinen, die eben noch gegeneinander antraten, in ausgelassener Partystimmung. Wir lernen: Der Zehnkämpfer fühlt sich selbst nicht als jemand mit Schwächen, er fühlt sich als Angehöriger einer Elite. Mit diesen Leute könnte man irgendwo einmarschieren. Nur wo?
Sylt gegen Copacabana
Beachvolleyball! Was für ein schönes Wort! Wie das schon klingt! Und was es für packende Bilder evoziert. Aber wann denkt man sich eigentlich: Mensch, ich werde Beachvolleyballer! Wahrscheinlich bei Vollmond an einem Strand in Goa. Es plätschert das Arabische Meer und pluckert altmodischer Entspannungstechno, im Hintergrund tuckert eine Enfield durch die Felder. Es riecht nach Gras. Aber irgendwas stimmt nicht. Beachvolleyball, wo ist dein Zauber? Wir sind beim Strandflugball der Männer. Deutschland gegen Brasilien, Sylt gegen die Copacabana. Verschwitztes Fuchteln in der Luft. Versuch, sich das als Eröffnungssequenz eines Schwulenpornos vorzustellen. Gescheitert. Versuch, sich den Geruch zu vergegenwärtigen. Vielleicht wie in einer Stierkampfarena? Nur statt Schweiß und Blut eben Schweiß und Sonnenöl. Und dann gewinnt Sylt (in Gestalt von Julius Brink und Jonas Reckermann) doch ganz überraschend. Jetzt ist klar: Beachvolleyball wird der neue Volkssport, Kleinkinder werden die Sandkästen auf den Spielplätzen räumen müssen. Die gelbgetönte Sonnenbrille künftig ein absolutes Muss.
Leichthin wie ein Motorrad
David Rudisha ist eine menschliche Mittelstreckenrakete. Auf 800 Metern teilt der sich nichts ein, taktiert nicht lange rum, sondern läuft in seinen blutroten Schuhen einfach allen anderen weg, so leichthin wie ein Motorrad beim Fahrradrennen. Auf dem Zielfoto ähnelt er den Athleten, die auf attischen Vasen abgebildet sind. Und hüllt sich nach dem Weltrekord in die herrliche kenianische Fahne, auf der das Massai-Schild mit gekreuzten Speeren zu sehen ist. Tatsächlich ist Rudisha der erste Olympiasieger, der diesem Volk entstammt. Zu seinen Ehren ist daheim eine ganze Rinderherde geschlachtet worden. Was kommt wohl jetzt?
Arschbombe auf olympisch
Teenagern beim Springen vom Zehn-Meter-Turm zuschauen. Junge Körper unter totaler Kontrolle. Erst trocken, dann nass. Kennt man ja aus dem Freibad, nur springen die Teenager dort nicht so gut. Halten sich dabei die Nase zu, kreischen, so was; Arschbombe, die aber nicht olympisch ist. Aber im Ernst: Dieses Zuschauen. Hat das was? Womöglich etwas leicht Perverses? Im Auge des Betrachters kann’s nicht liegen. Der denkt an das Raum-Zeit-Kontinuum, weil die Springer für ihre Verzwirbelungen nur zehn Meter Raum zur Verfügung haben und die Zeit bis zum Aufprall – besser: Eingleiten – ins Wasser. Trotzdem geil.
Die schnellste Insel der Welt
Drei Jamaikaner rennen am schnellsten die 200 Meter. Jamaika ist die schnellste Insel der Welt. Vorneweg natürlich Extremjogger Usain Bolt, der nach den 100 auch die 200 Meter gewinnt und als Erster das olympische Double auf den Sprintstrecken verteidigt. Nach dem Sieg seine Erkennungspose, die astrale Bogenschützenpose. Charles Baudelaire schwärmte einst von der „emphatischen Wahrheit der Geste in den großen Momenten des Lebens“. Bolts Geste hätte Baudelaire sicher gefallen. Aber die flinken Augen suchen dabei ständig die Fotografen, ob sie’s denn alle im Kasten haben. Das hätte Baudelaire nicht gefallen.
Finanzbeamte auf dem Grillfest
Ein schön klassischer Sport: der Speerwurf. Wäre Christiane Obergföll nicht so blond, man könnte sie glatt für eine Spartanerin halten. Was – außer einer Medaille – visieren diese Speerwerferinnen eigentlich an? Könnte man nicht an der 50- oder 60-Meter-Marke persische Fußsoldaten aus Pappmaché aufstellen? Wenn der Speer noch wippend im Rasen steckt, laufen schon die Wurfrichter hin und machen alles kaputt, weil sie in ihren seriösen Anzügen wie Finanzbeamte aussehen, die beim Grillfest von einem Gewitter überrascht werden. Ein Fußballspiel oder ein 100-Meter-Lauf wird erst dann komplett, wenn man hinterher darüber redet. Aber worüber ließe sich beim Speerwerfen diskutieren? Egal, Obergföll („In Offenburg bin ich bekannt wie ein bunter Hund“) holt Silber, Linda Stahl aus Lippe Bronze. Für Lippe ist es, so hört man, die erste Medaille.