: „Auf dem Bunker die Flagge setzen!“
Ballaballa in Brandenburger Blaubeerwäldern: Produktion kämpft erbittert gegen Instandhaltung
Die Gelben haben sich auf dem Dach des großen Bunkers verschanzt. Ihre Stellung scheint uneinnehmbar zu sein. Ihre Späher kontrollieren jeden Zentimeter des Geländes. In Heidekraut und Blaubeergesträuch liegend, tue ich alles, um für sie unsichtbar zu bleiben. Ich atme flach. Unser Anführer signalisiert über Funk die Notwendigkeit weiteren Vorrückens. Er selbst will den Bunker umgehen, um den Gelben in den Rücken zu fallen. Mit hartem Knall zerplatzt eine gegnerische Kugel unmittelbar vor mir an einem Baumstämmchen. Borke prasselt mir gegen den Kopf. Ein verruchter gelber Hund hat mich entdeckt! Ich presse mit dem Plexiglasvisier meines Helms die dicken Blaubeeren platt, die hier wachsen. Weitere Kugeln schlagen dicht neben mir ein oder pfeifen vorüber. Weiter links sehe ich einen indefiniten Betonklotz im Gelände. Ideale Deckung, nichts wie dorthin!
Ich springe auf und renne, unablässig weiterschießend. Meine roten Genossen geben mir Feuerschutz. Keine Reaktion der Gelben, die sind verblüfft und damit beschäftigt, die Ohren einzuziehen. Gut für mich! Aus vollem Lauf hechte ich hinter den Betonquader auf den Waldboden. Ich verschnaufe und werfe einen Blick auf den Befehlszettel. Viel härter als man denkt, ist es, eine schwere Waffe zu benutzen und gleichzeitig leichteste Befehle zu kapieren.
„Auf dem großen Bunker die Flagge setzen. Diese Aufgabe kann von allen Teammitgliedern ausgeführt werden.“ Vorausgesetzt, sie führen die Flagge mit sich. Ich tue das nicht, folglich kann diese Aufgabe nicht von allen Teammitgliedern ausgeführt werden, Herr Befehlshaber! Eine Bewegung neben mir beendet meine kritischen Überlegungen. Ein Vorposten der Gelben lächelt mich an – er hat auf der Rückseite des Betonklotzes in Deckung gelegen. „Gotcha!“, sagt er, was auf Slang-Amerikanisch so viel heißt wie „Ich hab dich!“
Ich bin also tot. Doch der Triumph des Gelben währt nicht lange: Aus der Deckung gekommen, wird er sofort von einer roten Kugel getroffen. So können wir gemeinsam mit erhobenen Druckluftkanonen zum „spawnpoint“ oder Totensammelplatz gehen und uns die mitgebrachten Pausenstullen schmecken lassen. „Die Munition ist essbar, hast du das gewusst?“, erklärt der tote Gelbe. Ich probiere eines der kaugummigroßen Geschosse, die beim Aufprall zerplatzen und zu dicken Tropfen geruchloser Gallerte werden. Uääh! Diese Munition schmeckt ja vielleicht scheiße! Wenn die Munition allerdings gut schmeckte, wenn man etwa mit Blaubeeren schösse, dann könnte man das ganze Spiel gleich vergessen, dann würde man garantiert bloß dasitzen und futtern.
Als nach insgesamt fünf Stunden alle zwanzig Spieler erschöpft sind, kommt der Besitzer des Extruppenübungsplatzes, ein Oberförster, um sich bei seinem Subunternehmer, dem Waffen- und Maskenverleiher, seinen Anteil abzuholen. Frau Oberförster bleibt im Daimler, wo sie vor uns finsteren, gallertbespritzten Lemuren geschützt ist. Unsere Gruppe hat etwa 1.000 Euro in die Tageskasse der Spaßgesellschaft eingezahlt; das wird die Dame im Wagen freuen, denn so fällt das Abendessen im „Grünen Baum“ in Eberswalde sicher opulenter aus.
Intellektuell, politisch und emotional zart besaiteten Deutschen gilt das Gotcha-Spiel noch immer nicht für opportun. Hierzulande schaut man sich lieber blutige Fernsehkrimis an, um sich zu entspannen. Leider jagen hie und da auch Neonazitrupps in schicken Wehrmachtsklamotten durchs Unterholz, was aus anderen Gründen bedenklich ist. Für diese sollte gelten: Neonazis dürfen keine Schutzmasken tragen! Ungeschützt kriegt man schöne blaue Flecke, verliert ein Auge oder geht nach Treffern auf Halsschlagader beziehungsweise Kehlkopf k.o.
Bei entsprechender Bekleidung macht das Spiel dagegen jedem Spaß, dem so was schön Beklopptes wie Mit-Farbschleimkugeln-aufeinander-Schießen Spaß macht. Es kann aber auch einen höchst praktischen Nutzen haben. Das Beispiel jener Gruppe von Spielern, die mich zum Mitmachen eingeladen haben, beweist dies:
Ihr privates Feuergefecht dient nämlich der Sicherung des alltäglichen Friedens am Arbeitsplatz. Ihr Arbeitgeber ist ein großer deutsch-amerikanischer Luxusautomobilkonzern. Im Alltag bilden sie zwei Abteilungen, die öfters gemeinsam Frust und Stress erleben. Die einen arbeiten in der Produktion und machen regelmäßig im Eifer des Gefechts ihre komplizierten Produktionsmaschinen kaputt. Die anderen müssen dann, mit entsprechendem Know-how ausgestattet, den entstandenen Schaden, so schnell es geht, reparieren, damit der Rubel rollt.
Dass sich also „Produktion“ und „Instandhaltung“ ab und zu in Brandenburgs Blaubeerwäldern erbittert mit Druckluftgeschossen beballern, hat seinen durchaus guten Grund. Täten sie das nicht, würde ein gewisser Automobilriese noch tiefer in roten Zahlen versinken. TOM WOLF