: Endlich erwachsen werden
Die geschichtliche Wahrheit ist oft gut verborgen. Ein Theaterprojekt in Tschechien versucht die Befragung historischer Quellen als öffentliches Ereignis zu inszenieren – auch wenn dabei mehr Fragen als Antworten auftauchen. Die erste Folge beschäftigt sich mit einem Massaker an Deutschen 1945
VON ZORA HESOVÁ
Fünfzehn Jahre nach dem Ende kommunistischer Historiografie gibt es in Tschechien eine ganze Reihe Monografien und Bücher über die Jahre 1945/46. Diese Art von Information erreicht die breitere Öffentlichkeit jedoch nur begrenzt. Die Diskussion über die tschechoslowakische Nachkriegszeit und besonders über die Verbrechen an böhmischen Deutschen 1945/46 verlässt selten die Regierungsebene und Historikerrunden. Nur das junge tschechische Theater bemüht sich, eine wirkliche Diskussion in der Öffentlichkeit darüber anzuregen.
2004 war in der Wochenzeitschrift Respekt ein ausführlicher Artikel über das Massaker an der Zivilbevölkerung im westböhmischen Postelberg (Postoloprty) Anfang Juni 1945 erschienen, der sich überwiegend mit der Unwissenheit und dem Unwillen der dortigen Bevölkerung befasste, dazu Stellung zu nehmen. In Miroslav Bambušek, einem jungen Theaterregisseur aus der nahen Kleinstadt Louny, fand der Artikel einen dankbaren Leser. Er hatte sich zuvor im Rahmen einer „Balkan Saison“ in Louny und Prag mit dem jungen Theater aus dem ehemaligen Jugoslawien beschäftigt und ein halbes Dutzend Theaterstücke als szenische Lesungen aufgeführt, die den Bürgerkrieg, die Gewalt und ihre Ursachen reflektierten. Für sein Stück „Sand“ erhielt er 2002 eine angesehene Theaterauszeichnung – den Radok-Preis. Nun gab es ein ähnliche gewaltsame Verwerfungen in unmittelbarer Nähe, die, im Unterschied zur Gewalt in den Kriegsjahren, bisher verschwiegen worden war.
Das Theater als Mittel der Vergangenheitsbewältigung ist in der Region nicht völlig neu. Seit 1997 führte das kleine, aber bekannte Theater „Cinoherní Studio“ in Ústí nad Labem (Aussig), bis zu seiner letzten Vorstellung in diesem Jahr, das sehr erfolgreiche Stück „Der Wald der wilden Säue“ 50-mal auf. Das auf einem Roman von Zdenek Smíd basierende Stück erzählt die Chronik der deutschböhmischen Familie Schmelzer von ihrer Einwanderung Anfang des 19. Jahrhunderts, bis sie 1945 das Land verlassen müssen. Die Geschichte so aus der Sicht der „Anderen“ zu erfahren, war ein Ereignis, das viele Diskussionen provozierte. 1997 lief auch eine erfolgreiche Serie über die Nachkriegzeit in Sudeten „Das verwilderte Land“ im öffentlich-rechtlichen Fernsehen, das sich jedoch vor allem auf die chaotischen Zustände der Region und die Konflikte mit der neuen Macht konzentrierte, ohne die Frage der Vertreibung zu berühren.
Miroslav Bambušek sieht deswegen zu Recht Aufklärungsbedarf. Sein Ziel ist es, „Lücken in der Geschichte zu beleuchten, Wunden der tschechischen Verschwiegenheit zum Trotz zu öffnen und das Publikum zu einer Auseinandersetzung mit Fakten zu zwingen“. Sein neues Werk „Porta Apostolorum“ über das Postelberg-Massaker, das im September uraufgeführt wird, hat schon jetzt einen Radok-Preis bekommen hat. Es ist eine Übung der Erinnerung und basiert diesmal auf historischen Dokumenten, die erst vor kurzem zugänglich wurden, nach Ablauf der Sperrfrist. Bambušek will sie als einmalige Ereignisse szenisch inszenieren und mit einer Reihe weiterer Aktionen begleiten: Diskussionen mit Historikern, Besuch der Orte und Ausstellungen.
Das auf zwei Jahre angelegte Projekt unter dem Namen „Perzekuce.cz“ hat am 28. Mai in Louny mit seinem ersten Thema Postelberg begonnen, am 60. Jahrestag der Ereignisse. Anders als in den Feierlichkeiten um das Kriegsende, die meistens der Befreiung durch die amerikanische und tschechoslowakische Armee, um das Andenken von Opfern des Prager Aufstandes und allgemein dem tschechoslowakischen Widerstand gewidmet waren, geht es Bambušek um die Beschäftigung auch mit den dunklen Seiten dieser Jahre. Denn, so Bambušek, eine gründliche Beschäftigung mit allen Aspekten der Vergangenheit ist für die Zukunft wesentlich: „Wenn jemand nicht rechtzeitig das Abitur ablegt, wird er nicht erwachsen. Ähnlich wird die Gesellschaft der Bürger ihr Selbstbewusstsein nicht erlangen, wenn sie sich der Vergangenheit nicht stellt. Damit ist nicht das artifizielle Selbstbewusstsein des Nationalismus oder des Konsumismus gemeint, sondern die Fähigkeit, eigene Urteile zu fällen, bevor man die Macht an jemanden delegiert“, sagt der Dreißigjährige.
In Louny wurden so Teile der Verhörprotokolle einer parlamentarischen Untersuchungskommission vorgelesen, die durch Präsident Beneš im Juli 1947 zur Aufklärung von Gewalttaten und Morden an Deutschen eingesetzt worden war. Die vier Hauptverdächtigten, ein Dorfpolizist und Lagerführer sowie drei Offiziere unterschiedlicher Abteilungen der tschechoslowakischen Armee, beschuldigten sich darin gegenseitig und wiesen jede Verantwortung zurück. In dem fesselnden und zugleich zynischen Spektakel tritt die Komplexität des Ereignisses und die Schwierigkeit der Schuldbeurteilung hervor. Ende Mai 1945 wurden alle männlichen Deutschen aus Postelberg in einer Kaserne interniert und angeblich auf ihre Verstrickung mit dem Naziregime geprüft. In der Nacht wurden etliche Inhaftierte erschossen und vergraben und die Überlebenden in ein anderes Lager überführt. In den darauf folgenden Tagen brachte man weitere deutsche Männer aus Žatec (Seitz) und Chomutov (Komotau) in die Kaserne. Bei der durch die Kommission angeregten Exhuminierung wurden im Herbst 1947 in der Nähe von Postelberg 763 Leichen gefunden, es schien sich dabei um den größten Massenmord an der deutscher Bevölkerung in Böhmen zu handeln.
Die szenische Lesung der Verhörprotokolle ermöglicht uns heute durch Worte, Biografien und Einstellungen der Verantwortlichen eine auf Dokumenten basierende Sicht zu verschaffen, die über Schuldfragen hinaus bisher weitgehend unbekannte Aspekte der Nachkriegsjahre erhellt. Entgegen der verbreiteten Meinung ging es in Postelberg wahrscheinlich weder um lokale Nachbarschaftskonflikte noch um spontane Rache der tschechischen Soldaten aus Wolhynien, die zusammen mit der Roten Armee gekämpft und große Verluste erlitten hatten. Das Dokument weist auf die Rolle einer Abteilung des tschechoslowakischen Armeenachrichtendienstes OBZ hin, die in Russland ausgebildet wurde. Ihre Aufgabe war es anscheinend, „das Terrain zu klären“, so erklärte einer der Offiziere einen ihrer mündlich übermittelten Befehle – die vermutlich Teil der sowjetischen Machtpläne waren.
Eine genauere Beurteilung bleibt den Historikern überlassen, die sich mit dem OBZ im Zusammenhang einer Reihe von Gewalttaten an Sudetendeutschen befassen. Die damaligen Parlamentarier konnten das Massaker nicht aufklären. Kurz nach ihrer Einsetzung 1948 gelangten die Kommunisten an die Macht und die Untersuchungskommission musste ihre Arbeit einstellen. Hinzu kommt, dass der Chef des OBZ, Bedrich Reicin, und einige der beteiligten Offiziere die Säuberungen in den Fünfzigerjahren nicht überlebt haben. Ob sie zu viel und was sie überhaupt gewusst haben, werden wir nie erfahren.
Die Inszenierung historischer Dokumente ruft mehr Fragen hervor, als sie beantwortet. Anders als in einem Filmdokument gibt es hierbei ein Publikum, dazu eingeladene Historiker und Journalisten, damit der enorme Diskussionsbedarf wenigstens zum Teil befriedigt werden kann. Der Bedarf betrifft vor allem die größeren Zusammenhänge, in denen die Gewalttaten stattfanden – in einer Zeit, in der sich schon der Vormarsch der sowjetischen Hegemonie abzeichnete. Und es sind vor allem Fragen, die genährt werden sollen: Miroslav Bambušek versteht die Neugier als Vorstufe zu einer Auseinandersetzung. Er versucht zum einen, den rohen Stoff der Geschichte zu präsentieren. So hatte das Publikum über die Lesung in Louny hinaus die Möglichkeit, mit einem Bus nach Postoloprty (Postelberg) zu fahren, um die vermuteten Orte der drei größten Massengräber zu besichtigen, wobei weitere Details, sowohl über die Gegenwart als auch Erinnerungen von Nachkommen der Opfer, erzählt wurden. Einige von ihnen hatten über das Projekt im Radio erfahren und ihre Mitarbeit angeboten.
Zum anderen soll die möglichst große Annäherung an die Wirklichkeit der Ereignisse helfen, „gegen die Tendenz, die Vergangenheit zu bagatellisieren oder zu vereinfachen, d. h. gegen die vorherrschende Gleichgültigkeit, eine Tat zu setzen“, eine, wie der Regisseur sagt, „öffentliche Tat mit politisch-sozialem Akzent“.
In den nächsten zwei Jahren folgen im Rahmen dieses Projekts in Prag die Themen „Todesmärsche, Lager und Prozesse“. Weitere Informationen dazu finden sich unter „Perzekuce.cz“.