: Strike A Pose
TANZ Das Entwicklungsland Deutschland bekommt seinen ersten Vogue Ball und öffnet sich dem Trans- und Postgender-Tanz, der aus der New Yorker Schwulen-Ballroom-Szene der 60er stammt
VON ASTRID KAMINSKI
„Pst!!! Pst!! Pssssssssssst!!! Das ist Unterricht für dich, Berlin! Es ist absolut wichtig, dass jetzt alle zuhören!“ So unterbricht Grandfather Hector Xtravaganza den ersten Berliner Vogue Ball. Der Kreuzberger Club L.U.X. ist eigentlich zu klein für das Event. Man muss den Platz fürs eigene Zwerchfell angestrengt verteidigen. Aber das Publikum ist genauso wie die Tänzer auf dem Podest lernbereit, der DJ dreht die Musik runter und die US-Ikone Hector wird seine Berlin-Lektion los: Bei der Vogue Performance sei es nicht erlaubt, andere Elemente hineinzumischen. Denn anders als in den vier vorangehenden Runden geht es hier nur noch um Tanzen. Jeweils zu zweit oder zu dritt treten die Tänzer aus Deutschland, Österreich, Schweden, Estland und Frankreich auf einem Podest von ungefähr zwei mal drei Metern bei dieser Deutschlandpremiere gegeneinander an. Eine Jury aus der New Yorker Vogue-Szene urteilt nach dem Ausscheideprinzip. Dem Gewinner winkt ein Pokal von der Schönheit eines Kaninchenzüchterordens.
Das Voguing hat sich in den 1960er-Jahren in der New Yorker Schwulen-Ballroom-Szene entwickelt und drang durch den Film „Paris is Burning“, aber vor allem durch Madonnas Song „Vogue“ ab Anfang der 90er aus dem Subkulturbereich ins öffentliche Bewusstsein. Organisiert ist die Szene in sogenannten Houses, die für ihre „Kinder“, die oftmals von ihrem Umfeld geächtet wurden, eine Art Ersatzfamilie stellen. Der Name des Tanzstils erinnert nicht umsonst an die Modezeitschrift. Die Appropriation von Laufsteg-Posen genauso wie nachgenähte – oder geklaute – Designerroben waren grundlegender Teil der Präsentation. Heute ist der Kleidungsstil vielfältiger geworden – der Fantasie sind zwischen geschnürter Reifrock-Romantik, de Sade und Lack und Leder, Schwanenfedern und Rattenschwänzen, historischen und Cyberpunk-Kostümen keine Grenze gesetzt. Tänzerisch setzt sich das Voguing dabei aus Elementen von Kampfsportarten, HipHop, Showdance und vor allem bewegten Interpretation altägyptischer Bildersprache zusammen.
Verantwortlich für das Berliner Vogue-Event ist die Tänzerin Georgina Philp, Aushängeschild der kleinen deutschen Szene und gleichzeitig Gründerin des ersten deutschen Houses mit derzeit sieben Mitgliedern. Den Auftakt des Wochenendes bildeten am Freitagabend die Vorführung von „Paris is Burning“ und das anschließende Podiumsgespräch mit drei wichtigen Vertretern der Szene. Hector Xtravaganza, der prominenteste unter ihnen, war auf der Leinwand als 19-Jähriger zu sehen und gehört inzwischen – obwohl er immer noch wie ein „chicken“ (Selbstauskunft) aussieht – schon zur dritten Generation. Ein Grandfather-Tattoo schmückt den Arm des durchaus patriarchisch auftretenden, dauerkaugummikauenden Souveräns.
Ebenfalls aus NYC ist King Aus of Ultra Omni gekommen. Aus war HipHop-Tänzer und Mitglied des Houses of Ninja, bevor er mit Ultra Omni ein eigenes Haus gründete. Seine virtuosen Demonstrationen einer Mischung aus Runway und HipHop-Walking beeindrucken ebenso wie die Knetmännchen-Motorik seines durchtrainierten Körpers. In der Workshop-Serie des Wochenendes wird sich außerdem herausstellen, dass Aus – im Unterschied zu Hector – ein ausgezeichneter Pädagoge ist. Als weibliches Mitglied und erstes europäisches Mitglied im legendären House of Ninja nimmt die Schwedin Anna Ninja am Gespräch teil, das vor allem Hintergründe und die Unterschiede zwischen den verschiedenen Generationen vermittelt.
Zu der Urknallkettenzündung dieses Wochenendes gehörte auch die Weltpremiere von drei neuen Houses. Alle drei, das Düsseldorfer „House of Melody“ von Georgina Philp, das Hamburger House of Lazer, sowie ein Pariser House, sind erst wenige Wochen alt. Zwar bezeichnen sich diese europäischen Vogue-Derivate nach US-amerikanischer Tradition als Houses, haben dabei aber weniger soziale Funktionen als ihre Vorbilder, sondern sind in vielem einer Tanzkompanie recht ähnlich. Das liegt nicht nur an der im Vergleich mit der New Yorker 1960ern verbesserten gesellschaftlichen Akzeptanz von Homo- und Transsexualität – der Pariser Tänzer Binh zum Beispiel arbeitet als Grundschullehrer –, sondern auch daran, dass das Voguing auch von weiblichen Tänzerinnen mit Hintergründen wie HipHop, Modern und Cheerleading entdeckt wurde.
Das Niveau des ersten deutschen Balls ist erstaunlich, auch wenn im Vergleich längst noch nicht auf dem Stand eines hoch angesetzten HipHop-Battle. Die Messlatte dieses Trans- und Postgender-Tanzes wurde bei der Premiere im Entwicklungsland Deutschland durch das House of Melody generell beachtlich hoch gehängt.