EIGENTLICH SOLL MAN MENSCHEN NICHT ZU GENAU BEOBACHTEN. WECKT ARGWOHN. AUSSER, SIE SIND GERADE NICHT WACH : Im Schlaf
ROGER REPPLINGER
Ein unangenehmer Geruch im Zug aus Lübeck. Eine Gruppe Jugendlicher auf dem Weg zurück von Fehmarn. Einer liegt, den Kopf gegen das Fenster gelehnt, und pennt. Der Zugbegleiter kommt. So, und nun? Wecken! Eine heikle Sache. Denn der Schlaf ist ja ein mysteriöser Zustand. Und ein intimer.
Der Zugbegleiter spricht den jungen Mann an. Der reagiert nicht. Der Zugbegleiter wird lauter. Wieder nichts. Also geht es nicht ohne Berühren. Erster Versuch. Der Junge pennt weiter. Zweiter Versuch. Großes Erschrecken. Der Junge weiß einen Moment lang nicht, wo er ist. Der Zugbegleiter wartet. „Die Tickets“, sagt der junge Mann, „hat der da vorne.“
Auch im Zug nach Braunschweig: scharfer Geruch. Ausgehend von denen, die vom Festival in Wacken auf dem Weg nach Hause sind. Bärte, Schwerter, zerrissene Strumpfhosen, Schlamm an den Stiefeln, Rucksäcke im Gepäckfach, Proviant im Bahnhof gekauft. Haben mehrere Tage ohne sanitäre Einrichtungen gelebt. Metal-Pfadfinder, die meisten schlafen, halb auf den Sitzen liegend. Die Füße irgendwo hin gestreckt, den Mund offen. Pfeifgeräusche, Schnarchen. Das Ausatmen bewegt die Barthaare. Dann stolpert das Atmen, nach Luft schnappen, Geräusch wie Ersticken, dann wieder ruhiger. Schnarchen. Alles geht von vorne los. Des Menschen Biologie macht seltsame Musik.
Man darf Menschen ja nicht beobachten, jedenfalls nicht so genau. Das weckt Argwohn. Nur Maler und Fotografen dürfen das. Schlafende aber merken es nicht. Da geht’s. Ich selbst kann, seit der Lektüre von „Emil und die Detektive“, im Zug nicht schlafen. Habe immer das Gefühl, ich werde beklaut von Herrn Gründels, der aussieht wie Fritz Rasp.
Leute pennen an seltsamen Orten. Im Winterhuder Weg hat ein Mann einen Pappkarton – da war mal ein Plasma-Fernseher drin – auseinander gerupft und auf eine Mauer gelegt. Vor dem Bahnhof lag tagelang ein Obdachloser neben dem Abgang zur U 2 in einem Schlafsack. Beschallt von Gebrüll und Johannes Brahms, zwischen Scherben, Tauben, Hunden, Reisenden mit Trollies, Kindern, Bahnpolizisten.
Auch in der Staatsbibliothek wird viel geschlafen. Im Lesesaal. Den Laptop etwas nach vorne geschoben, die Unterarme als Kissen. Oder zwei, drei Bücher, geschickt geschichtet, Unterarme drauf. Das Problem ist, dass der Tisch zu flach ist, um drauf zu schlafen. Es gibt die Variante mit dem zur Seite geneigten Kopf, und die mit der Stirn, die auf den Unterarmen liegt. Vor allem um die Mittagszeit und dann wieder am späten Nachmittag. Selten Frauen, häufig japanische und koreanische Studenten. Lernen bis zum Umfallen.
Als es mal warm war, schliefen die Leute mittags ein halbes Stündchen an der Alster. Bisschen einschmieren, Hut aufs Gesicht, Hemd oder Bluse weg. Bei der Olympia-Berichterstattung sah man auch dann und wann auf den Zuschauerrängen Leute schlafen. Taekwondo, Turmspringen, Badminton, Dressur, Turnen, Segeln: sedieren offenbar prächtig.