: Theater-Bringdienste
Vor allem freie Theaterkünstler*innen erkunden in Corona-Zeiten die ästhetischen Potenziale des Digitalen wie die CyberRäuber und die Gametheatergruppe machina eX
Von Tom Mustroph
Viele große Theaterhäuser streamen noch. Perlen aus dem Archiv sind dabei wie etwa Klaus Michael Grübers Hölderlin-Produktion aus dem Jahre 1977; die damalige Schaubühne, zu jener Zeit noch am Halleschen Ufer ansässig, war so modern, dass sie bereits aufzeichnete. Weitsicht von Peter Stein & Co, die sich 43 Jahre später in Form eines temporären Fensters in ein Theatermuseum auszahlt.
Wer heute ambitionierter ist, verlagert aktuelle Proben und Aufführungen auf die diversen Videokonferenzplattformen. Die Bayerische Theaterakademie August Everding etwa schaltete für die Abschlussinszenierung des 4. Studienjahrs die Spielerinnen und Spieler aus ihren jeweiligen Wohnungen zusammen. Man blickte am eigenen Bildschirm auf die Porträtwand in der mittelmäßigen Webcam-Qualität und hörte immer die Person sprechen, die vom Algorithmus als die gerade wichtigste identifiziert wurde. Die Probleme, die den Kommunikationsalltag im Homeoffice so prägen, beeinflussten auch dieses Theatererlebnis.
Immerhin, Regisseur Marcel Kohler, zugleich Ensemble-Mitglied des Deutschen Theaters in Berlin, hatte zumindest versucht, einige der Elemente, die Schauspiel ausmachen – live gesprochene Sprache vor allem – in die digital geteilte Performancewelt zu überführen. Das scheint angesichts der eher dürftigen technischen Ausstattung der Theaterhäuser gegenwärtig der Hauptweg aus dem Lockdown-Abseits heraus zu sein.
Schlauer und auch radikaler gehen freie Theaterkünstler*innen vor. Vor einigen Jahren schon scannten die Berliner CyberRäuber Probenräume, Foyer und auch den Vorplatz des Deutschen Theaters, also Kohlers angestammten Arbeitsplatz. Die so erstellten Datenwolken nutzen sie jetzt als Aufführungsort für ein „CyberBallett“.
Im Motion-Capture-Verfahren aufgezeichnete Bewegungssequenzen des Tänzers und Choreografen Ronni Maciel werden dabei in den virtuellen Raum verlagert. „Das Publikum kann in diesem virtuellen Raum anwesend sein mit einem Avatar. Es hat die räumliche Erfahrung und kann auch mit den anderen Avataren interagieren“, blickt Björn Lengers, einer der CyberRäuber, auf das Erlebnis voraus.
Neben den gescannten Räumen des Deutschen Theaters wird es auch in virtuelle Repräsentationen des Badischen Staatstheaters Karlsruhe gehen. Dort war die Premiere des „CyberBalletts“ geplant. Für den 30. April sehen Lengers und sein Kollege Marcel Karnapke ein erstes öffentliches Showing mit Begehung von Räumen und Bewegungssequenzen vor. Inhaltlich geht es um eine künstliche Intelligenz, die gern tanzen will und sich dafür einen Körper – in Covid-19-Terminologie: einen Wirt – sucht.
Aktuell müssen sich die CyberRäuber nicht nur mit der Beherrschung der diversen Datenwolken für Raum, Bewegung und Objekte auseinandersetzen, sondern sich auch Gedanken über die Zugänge fürs Publikum machen.
Denn die Plattform VRChat, die sie nutzen, läuft nicht auf Apple-Rechnern – das Gros der theateraffinen Gemeinde verbringt sein digitales Leben aber auf genau dieser Basis. Lengers und Karnapke müssen also für Brückentechnologien sorgen. Echte Pionierarbeit.
Der Entscheidungsprozess, welche Plattform man nutzt, ist auch für andere Theatermacher*innen, die ins Digitale vorstoßen, relevant. Die Berliner Gametheatergruppe machina eX zog für ihr neues „Lockdown“-Game anfangs SMS-Dienste, WhatsApp und den Messengerdienst Signal in Erwägung. „Wir wählten dann aber Telegram. Die Plattform ist leichter zugänglich und bietet auch gute Möglichkeiten, mit Audio- und Videoquellen zu agieren“, erzählt Dramaturgin Clara Ehrenwerth der taz.
Telegram-Theater führte bereits die Gruppe vorschlag:hammer in ihrer Produktion „Twin Speaks“ am virtuellen Ballhaus Ost recht gekonnt auf. Im Unterschied zu dieser Produktion werden bei „Lockdown“ die Teilnehmer*innen stärker miteinander interagieren. Es müssen Rätsel gelöst werden, um das Verschwinden einer WG-Mitbewohnerin im Covid-19-Ambiente aufzuklären. Die Premiere ist am 6. Mai im virtuellen FFT Düsseldorf.
Ebenfalls ein Multiplayer-Game entwickelt das Onlinetheater.Live. In „Hyphe“ wird auch narrativ ein Netzwerk zwischen den einzelnen beteiligten Subjekten gewoben. Es soll um Träume, Begierden und emotionale Erlebnisse gehen. Premiere ist der 13. Mai
Plattformbasis-Arbeit liefert derweil die Initiative digital stage. Sie will einen Konferenzdienst für Musik, Video, Tanz und Theater entwickeln. Beteiligt sind unter anderem das Internationale Theaterinstitut, das KF Institut für Künstlerische Forschung, die Hochschule für Musik und Theater Hamburg, die Technische Hochschule Köln und die Akademie für Theater und Digitalität Dortmund.
An der Dortmunder Akademie wird in den nächsten Tagen auch ein Spielplan 3.0 zusammengestellt, der auf die interessanteren Projekte und Initiativen jenseits von Streaming und Vieokonferenz-Performances hinweist. Geplant ist für Anfang Mai auch ein Kongress an der Dortmunder Akademie.Von dort kann man dann zum nächsten Vernetzungsevent, dem On/Live-Symposium am FFT Düsseldorf, wechseln.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen