piwik no script img

berliner szenenAller Reichtum dieser Welt

Ich stelle sie mir in einem Kostüm vor, wie sie die Superhelden in den Fernsehserien meiner Kindheit getragen haben. So wie Superman oder Wonder Woman. In Rot und Blau, doch mit dem Buchstaben „I“ auf die Brust. „I“ wie Immunität: Sie sagt mir am Telefon, es wäre besser, wenn sie sich mit Corona infizieren würde. Und wenn überhaupt mehr Leute immun gegenüber dem Virus werden würden.

Das Bild mit der Superheldin behalte ich für mich. Doch ich finde ihre Idee gefährlich und das sage ich ihr auch: „Ich verstehe dich nicht.“

Seit Tagen streiten wir uns, wie wir uns in den elf Jahren, seit wir uns kennen, noch nie gestritten haben. Ich denke, sie ist egoistisch geworden. Dass sie ihr Stück Normalität nicht aufgeben will. Sie wiederum denkt, ich übertreibe und sei gerade dabei, verrückt zu werden.

Vielleicht haben wir beide ein bisschen recht. Es ist traurig, sich plötzlich nicht mehr zu erkennen. „Es fühlt sich für mich so an, als würdest du die AfD wählen wollen“, sage ich. „Das auch noch“, sagt sie, und wir schweigen.

Ich schlage vor, ein Experiment zu machen: „Du hörst drei Tage lang Nachrichten. Ich schalte drei Tage lang alles aus.“ Ich bin begeistert von der Idee, das wäre wie bei „Aller Reichtum dieser Welt“ von Irwin Shaw. Doch sie antwortet darauf nicht.

Ich lese irgendwo, dass viele Beziehungen in diesen Zeiten, Risse bekommen werden. Doch ich ändere meine Position trotzdem nicht und denke noch, dass alle zu Hause bleiben sollen, die das können. Sie denkt weiterhin, dass das nichts bringt.

Als ich später am Tag mit dem Fahrrad eine Runde durch den Kiez drehe, treffe ich sie zufällig. Oh Gott, habe ich sie vermisst, denke ich. Wir bleiben aber auf Distanz und diskutieren weiter. „Das war schön“, sagt sie dann und wir schauen uns in den Augen.

Luciana Ferrando

Eine Koalition, die was bewegt: taz.de und ihre Leser:innen

Unsere Community ermöglicht den freien Zugang für alle. Dies unterscheidet uns von anderen Nachrichtenseiten. Wir begreifen Journalismus nicht nur als Produkt, sondern auch als öffentliches Gut. Unsere Artikel sollen möglichst vielen Menschen zugutekommen. Mit unserer Berichterstattung versuchen wir das zu tun, was wir können: guten, engagierten Journalismus. Alle Schwerpunkte, Berichte und Hintergründe stellen wir dabei frei zur Verfügung, ohne Paywall. Gerade jetzt müssen Einordnungen und Informationen allen zugänglich sein. Was uns noch unterscheidet: Unsere Leser:innen. Sie müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 50.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Es wäre ein schönes Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen