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Archiv-Artikel

Die Frau, die nicht essen konnte

KOTZEN „Stalins Kühe“ – Sofi Oksanens Roman über binationale Identität und pathologische Unfähigkeit zur geregelten Nahrungsaufnahme

VON KATHARINA GRANZIN

Man müsste lange suchen, um eine andere so exzessiv um den eigenen Bauchnabel kreisende Erzählerfigur zu finden. „Anna“ nennt Sofi Oksanen die junge Frau, die in „Stalins Kühe“ von sich erzählt. Von ihrer Kindheit, die sie an der Seite ihrer estnischen Mutter halb in Finnland, halb in Estland verlebte. Und von der Essstörung, die ihr Leben bestimmt, seit sie elf Jahre alt war.

Viele von Annas Erlebnissen speisen sich aus Erfahrungen der Autorin, die erst sechsundzwanzig war, als dieser Roman, ihr erster, im Jahr 2003 im finnischen Original erschien. Auch für Sofi Oksanen war es nicht leicht, in Finnland als Tochter einer Estin und eines Finnen aufzuwachsen. Sie habe immer Estland als ihr Land betrachtet, erzählte sie nach Erscheinen ihres Debüts. Estin zu sein habe bedeutet, in einer geheimen Welt zu leben, die sie stets vor ihrer finnischen Umwelt verborgen habe. Erst als Studentin der Dramaturgie in Helsinki vertraute sie sich einer Dozentin an, die sie ermutigte, mehr Material zu sammeln und über ihre Erfahrungen ein Buch zu schreiben. So entstand „Stalins Kühe“.

Große erzählerische Kraft

Es ist ein Roman, der von einer großen erzählerischen Kraft getragen wird und gleichzeitig etwas Wildes, nicht Durchgeformtes an sich hat, obwohl er in seiner äußeren Form kontrolliert genug erscheint. Passagenweise wechselt die Erzählung zwischen verschiedenen Zeitebenen. Sie setzt damit ein, wie Annas Mutter, Katariina, als junge Frau in Estland „den Finnen“ kennenlernt. Als „der Finne“ wird Annas Vater den ganzen Roman hindurch fungieren, wird in den Icherzähpassagen von Anna auch als „Vati“ bezeichnet, aber stets namen- und konturlos bleiben.

Die junge Katariina, die Bauingenieurin und somit einerseits ganz emanzipierte Sowjetfrau ist, andererseits aber die Sowjetunion und alles Russische hasst, ergreift die Gelegenheit, einen Ausländer zu heiraten und sich ein neues Leben jenseits des Eisernen Vorhangs zu suchen. Mental wird sie nie in diesem neuen Leben ankommen, und auch der Mann war nicht der Richtige. So wird sie ihre Tochter zur Gefährtin machen und diese, statt sie als halb finnisches Kind unter finnischen Kindern aufwachsen zu lassen, ganz in ihr altes Leben mitnehmen und so viel Zeit wie möglich in Estland verbringen. Es ist die traurige Geschichte eines ziemlich destruktiven Cultural Clash und wahrscheinlich die einer Verweigerung von Integration. Doch es ist nicht diese Geschichte, die der Roman erzählt. Er handelt fast ausschließlich von ihren Folgen.

Die erwachsene Anna, die wir kennenlernen, leidet an Bulimie, was Sofi Oksanen als Metapher für das Leben in der Ost-West-Kluft verstanden wissen will. Als reine Metapher allerdings wäre das Thema schnell erschöpft. Man wäre wohl kaum bereit, über fast fünfhundert Seiten einer Bulimikerin zu folgen, die sich auf weiten Strecken außer über ihre Essstörung vornehmlich über ihr geheimes Selbstverständnis als Krypto-Estin in der finnischen Mehrheitsgesellschaft mitzuteilen hat, wenn die verzweifelte Körperlichkeit dieser Metapher nicht etwas so Obsessives hätte.

So eindringlich, wie diese Krankheit geschildert wird, die Fress- und Kotzorgien, diese Besessenheit von dem Bedürfnis, sich einen vollendet begehrenswerten Körper zu schaffen, hat man das noch nicht gelesen. Verstörend ist es vor allem in Verbindung mit einer eng damit zusammenhängenden (Zwangs-) Vorstellung, nämlich dem Bild von der estnischen Frau als Hure im Blick des finnischen Mannes. Eine eigentümliche Ambivalenz ist damit verknüpft. Einerseits will Anna unbedingt eine schöne Frau sein, kleidet sich schon als Kind sehr weiblich und gehorcht damit weniger dem finnischen als vielmehr dem estnischen Schönheitsideal. Andererseits blickt sie auf die etwas grelleren Formen des weiblichen Sichschmückens bei estnischen und russischen Frauen wie ein finnischer Mann und sieht diese Attribute als Zeichen kostengünstiger sexueller Verfügbarkeit. Mitunter passiert es auch, dass ein finnischer Tourist ebendiese Signale der Käuflichkeit an ihr selbst wahrzunehmen scheint, was sie mit ohnmächtiger Wut erfüllt. Und doch füllt das Streben nach sexuell attraktiver Weiblichkeit Annas ganzes Dasein aus.

Unauffällig autoaggressiv

In Sofi Oksanens drittem Roman, „Fegefeuer“, der vor zwei Jahren auf Deutsch erschien, ist das Verhältnis der Geschlechter noch deutlich radikaler ausgestaltet. Es wird von Gewalt und Machtmissbrauch bestimmt. Im Vergleich beider Romane ist es fast so, als suche die Autorin in ihrem Debütroman, der fünf Jahre vor „Fegefeuer“ entstand, noch vergebens nach einer Lösung des vertrackten Problems mit der Geschlechtsidentität und dem Geschlechterverhältnis. In „Stalins Kühe“ findet Gewalt nicht offen statt; sie ist ausschließlich nach innen verlagert. Die Bulimie ist die perfekte Form der gesellschaftlich unauffälligen Autoaggression. Einen Ausweg daraus eröffnet der Roman nicht.

In „Fegefeuer“ dagegen hat es etwas großartig Befreiendes, wenn Frauen, die von Männern so richtig gequält wurden, sich entscheiden zurückzuschlagen. Eine Lösung, die darin liegt, Gewalt von Sexhändlern mit Gegengewalt zu beantworteten. Aus der Sache mit der Essstörung lässt sich dagegen bei Weitem nicht so einfach herauskommen.

Sofi Oksanen: „Stalins Kühe“. Aus dem Finnischen von Angela Plöger. Kiepenheuer & Witsch, Köln 2012, 489 S., 22,99 Euro