krankes berlin : Depressionen der Großstadt
Klar: Arbeitslosigkeit und die Angst um den Job machen depressiv, zumindest wirken sie sich nicht lindernd auf psychische Störungen aus. Wie sollte auch ein Mensch, der nur Hartz IV als Perspektive hat, glücklich durch die Welt gehen? Fast folgerichtig, dass Berlin im Bundesvergleich an der Spitze der Psycho-Erkrankungen steht.
KOMMENTAR VON RICHARD ROTHER
Aber auch nur fast. Denn wer die Erwerbslosigkeit als alleinige Ursache für die Zunahme psychischer Behandlungen verantwortlich macht, liegt falsch. Dies zeigt der Blick nach Sachsen-Anhalt. Dort gibt es prozentual mehr Arbeitslose, aber weniger psychische Erkrankungen – zumindest werden sie nicht behandelt.
Im ländlichen Raum werden psychische Erkrankungen oft stigmatisiert, im toleranten und anonymen Berlin fällt der Weg zum Therapeuten leichter. Zudem gibt es hier ein breiteres Angebot an Therapien als anderswo. Anders gesagt: Das Angebot kann Nachfrage schaffen.
Dennoch bestätigt der Blick auf die Berliner Psyche einen anderen Trend: Die Berufstätigen gehen seltener zum Arzt. Während die psychischen Krankheiten bei den Arbeitslosen zunahmen, sanken sie insgesamt in Berlin – gegen den bundesweiten Trend. Der Befund hat sicher mit der Angst vor Arbeitslosigkeit zu tun. Wer noch einen Job hat, schleppt sich lieber krank zur Arbeit. Umso schlimmer und teurer können sich später verschleppte Krankheiten auswirken. Das ist die eine Wahrheit.
Die andere ist: Es gibt Menschen, die wegen Lappalien oder aus Langeweile – sehr teure – Ärzte aufsuchen, die sich über jeden Kunden freuen. Die Kosten des Gesundheitssystems steigen und werden bei jeder Reform mehr auf die Versicherten abgewälzt. Dass die Berliner weniger zum Arzt gehen, kann also auch ein gutes Zeichen sein.